23. Jahrestagung des Arbeitskreises kritische Unternehmens- und Industriegeschichte 2012
Unternehmensgeschichte trifft Entrepreneurship
„Entrepreneurship“ ist ein facettenreicher und schillernder Begriff, der in den letzten beiden Jahrzehnten von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft intensiv diskutiert und operationalisiert worden ist. Innerhalb der Europäischen Union wurden milliardenschwere Maßnahmen (EXIST, PHARE u.a.) entwickelt und umgesetzt, um das Gründungsgeschehen und damit Wirtschaftswachstum in den Mitgliedsländern anzuregen und unternehmerisches Denken auf allen Ebenen der schulischen, beruflichen und universitären Aus- und Weiterbildung durchzusetzen. Induziert durch diesen Prozess wurden seit 1998 nach dem Vorbild der US-amerikanischen Entrepreneurship-Ausbildung an vielen bundesdeutschen Hochschulen Lehrstühle für Entrepreneurship sowie Technologie- und Gründerzentren eingerichtet. Dies befruchtete die akademische Forschung, was an einer schnell wachsenden Zahl von einschlägigen wissenschaftlichen Studien und praxisorientierten Handbooks deutlich wird.
Der neuen Teildisziplin eigentümlich sind eine explizite Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und unternehmerischer Praxis sowie eine interdisziplinäre Ausrichtung. Theoretisch wird vor allem an Joseph Schumpeters Konzept vom innovativen Unternehmer, an Frank Knight, an behavioristische Ansätze (u.a. R. M. Cyert, J. G. March und David McClelland) sowie an institutionenökonomische Theoreme angeknüpft. Grundannahme der neueren Entrepreneurship-Lehre ist die Vorstellung, dass Unternehmensgründungen durch wissenschaftliche Ausbildung induziert werden können und dass grundlegende oder weiterführende unternehmerische Qualifikationen akademisch vermittelbar sind. Gesellschaftlich ist dies mit einem Bild des Unternehmers verbunden, der als idealer Repräsentant des technischen und organisatorischen Fortschritts dargestellt wird und damit als Modell für „unternehmerisches Selbst“ dienen soll (Ulrich Bröckling).
Diese Axiome sind indes keineswegs unumstritten und bieten damit einen guten Ausgangspunkt für die Diskussion. Die moderne Unternehmensgeschichte nimmt, abseits von traditioneller Hagiographie, Unternehmer in ihrer funktionalen und sozialen Rolle innerhalb und außerhalb von Unternehmen in den Blick. Im Gegensatz zur gegenwärtigen Entrepreneurship-Forschung spielen Historisierung und Kontextualisierung in der Unternehmensgeschichte eine große Rolle. Im Mittelpunkt stehen in diesem Zusammenhang die Fragen nach der Veränderung der Unternehmerfunktion im Zeitverlauf, wie sie ausgeübt wurden und wer sie ausgeübt hat. Dies sind Fragen, die angesichts zunehmend komplexer Unternehmensorganisationen, spezialisierter R&D Abteilungen oder interner Innovationszentren keineswegs leicht zu beantworten sind. Die Unternehmensgeschichte hat anstelle des Unternehmers häufig strategische Entscheidungen oder die Corporate Governance in den Mittelpunkt gerückt. Gerade sie haben geholfen, die Rolle und Funktion des „Unternehmers“ genauer zu bestimmen und sie zugleich in Frage zu stellen. Von einem ganz anderen Ausgangspunkt hat die technikhistorische Innovationsforschung ähnliche Fragen aufgeworfen, doch begegnen sich die beiden historischen Disziplinen noch zu selten. Die intensive Beschäftigung mit Semantiken, Diskursen und visuellen Repräsentationen hat zudem die zentrale Bedeutung unternehmerischer Selbst- und Fremdbeschreibungen sowohl für die Entscheidungen in Unternehmen wie im gesellschaftlichen Diskurs über Unternehmer und Unternehmen unterstrichen.
Hier wollen wir mit unserer Tagung ansetzen und insbesondere kritisch fragen, welchen Nutzen die unternehmens- und wirtschaftshistorische Forschung aus der neuen ökonomischen Teildisziplin „Entrepreneurship“ ziehen kann – und vice versa. Wir bitten um Themenvorschläge, die sich mit verschiedenen Ebenen der Entrepreneurship-Forschung und -Lehre befassen sowie um unternehmenshistorische Studien, die sich mit dem Unternehmer und der Unternehmerfunktion beschäftigen.
Vorschläge für Referate oder Panels können sich mit folgenden Themen und Fragen befassen:
1. Zur ökonomischen Funktion von Unternehmern und zur Unternehmertheorie
- Unternehmer-Konzepte der Historischen bzw. der Österreichischen Schule der Nationalökonomie (Werner Sombart, Max Weber, Ludwig von Mises u.a.) – veraltet oder nützlich für moderne Entrepreneurship-Forschung?
- Schumpeter revisited: der „frühe“ und der „späte“ Schumpeter aus heutiger Sicht
- Welche Rolle spielen die Sozial- und Kulturwissenschaften? Sozialpsychologie und Unternehmermentalität
- Die Unternehmerfunktion in der Institutionenökonomik
- Der evolutorische Ansatz: Historisierung und Kontextualisierung von Entrepreneurship?
- Welche Rolle spielen Wissen und Technik? Zur Einbeziehung der Innovationsforschung
2. Selbst- und Fremdbilder von Unternehmern und Unternehmerinnen
- Selbst- und Fremdbilder vom Unternehmer – welche gesellschaftlichen Funktionen nimmt er in sprachlichen und visuellen Diskursen ein?
- „Unternehmergeist“ als Mittel der sozialen Distinktion und der gesellschaftlichen Legitimation privater Unternehmen? Autobiographien und Biographien
- Der innovative und kreative Unternehmer? Zur Selbst- und Fremdstilisierung von technischem und kreativem Wissenspotential für erfolgreiche Gründertätigkeit
- Sind Unternehmerinnen nur Platzhalterinnen oder Erbinnen? Zum wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bild von Unternehmerinnen
- Ist „Entrepreneurship“ kulturgebunden? Das Bild vom Entrepreneur in verschiedenen Kulturen
3. Unternehmensgeschichte als „Best Practice Cases“? Unternehmerische Praktiken
- Kapital, Arbeitskräfte, Ressourcen, Entrepreneurial Spirit oder Glück? Welche Faktoren zählen für erfolgreiche Unternehmen? Fallstudien zu Unternehmern, Ursachen für ihre (erfolgreiche) Tätigkeit, Impulse, Ziele und Motive
- Was bedeutet „Entrepreneurship“ für die Binnenwelt des Unternehmens? (z.B. Corporate Entrepreneurship und Intrapreneurship)
- Welche Rolle spielen Gründungsinhalte und Gründungskontexte? (Economic vs. Social Entrepreneurship, Joint Ventures und Out-Sourcing, Krisen- oder Boomphasen, Branchen und Sektoren, staatliche Förderungen usw.)
- „Small is beautiful“? Kleine und mittlere Unternehmen als „Inkubatoren“ für Innovationen
- Werden aus Mitarbeitern zukünftig Unternehmer? Neue Konzepte des Intrapreneurship und gesellschaftliche Implikationen des unternehmerischen Selbst
- Historische Fallstudien – Kann die Entrepreneurship-Forschung aus der Unternehmensgeschichte lernen?
4. Kann man „Unternehmer“ lernen? Zur akademischen Ausbildung von Unternehmern
- Wie lernt man „Unternehmer“? Inhalte von Entrepreneurship-Studien(gängen) und Anforderungen an unternehmerische Tätigkeit
- Welche Rolle spielen die Hochschulen für Gründertätigkeit? Unternehmensgründungen im Umfeld von Universitäten und Hochschulen
- Wie verbindet man unternehmerische Praxis mit gehaltvoller ökonomischer Theorie? Zum Theorie-Praxis-Problem der Entrepreneurship-Lehre
- Zur publizistischen Institutionalisierung einer Disziplin: Wissenschaftliche Forschung und Handbuchwissen im Vergleich (z.B. Entwicklung von Readern, Hand- und Textbooks)
- Produktionsfaktor „Wissen“? Zur Rolle von Wissensbeständen und ihrem Schutz für die Gründungstätigkeit (Patente, Patentwesen, Rolle der Property Rights)
Wir bitten um kurze Vorschläge (1 S.) für Referate bis zum 31.1.2012 an: Dorothea Schmidt (dorothea.schmidt@hwr-berlin.de) oder Stefanie van de Kerkhof (stefanie@vandekerkhof.de)
Prof. Dr. Dorothea Schmidt
Hochschule für Wirtschaft und Recht
Badensche Straße 50-51
10825 Berlin
Dr. Stefanie van de Kerkhof
Lehrstuhlvertreterin
Professur Angewandte Ökonomik
Universität Mannheim
L 7, 3-5
68131 Mannheim