Entzogene Freiheit – Freiheitsstrafe und Freiheitsentzug

Entzogene Freiheit – Freiheitsstrafe und Freiheitsentzug

Veranstalter
Urs Germann; traverse. Zeitschrift für Geschichte
Veranstaltungsort
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
30.09.2012 -
Deadline
30.09.2012
Website
Von
Urs Germann

traverse. Zeitschrift für Geschichte
Voraussichtliches Erscheinungsdatum: 1/2014 (März 2014)

Das späte 19. Jahrhundert gilt als Hochzeit der Freiheitsstrafe, auch wenn ihre Vorläufer in die frühe Neuzeit zurückreichen. Das Entziehen der persönlichen Freiheit erscheint – von wenigen Ausnahmen wie Todes- oder Geldstrafen abgesehen – den liberalen Juristen des 19. Jahrhunderts als adäquate und wohl proportionierbare Reaktion auf Gesetzesübertretungen des freien, jedoch oft mittellosen Bürgers. Machen um 1900 Freiheitsstrafen noch rund 80% aller strafrechtlichen Sanktionen aus, so sinkt dieser Anteil bis zur Wende zum 21. Jahrhundert indes deutlich. Heute machen unbedingte Freiheitsstrafen in der Schweiz noch 5% aller ausgesprochenen Sanktionen aus.

Gleichzeitig verändern sich die Vollzugsinstitutionen: an die Stelle von «Schellenwerken» und Hafttürmen treten im 19. Jahrhundert in manchen Kantonen moderne Zuchthäuser und Zellengefängnisse oder später landwirtschaftliche Kolonien. Aus den Reformbestrebungen von Gefängnisdirektoren und anderen Philanthropen entwickelt sich im 20. Jahrhundert schliesslich das Programm des Erziehungsstrafvollzugs, das auf die Wiederherstellung sozialer Konformität, auf Resozialisierung, abzielt.

Aus heutiger Sicht bleibt die Geschichte der Freiheitsstrafe kontrovers: inwieweit lässt sie sich als «Zivilisationsprozess» (Elias) interpretieren, der freilich nicht vor Rückschlägen gefeit ist? Oder liest sie sich eher als eine – national und regional unterschiedlich verlaufende – Abfolge von hehren Erwartungen und faktisch eingetretenen Enttäuschungen, die nicht zuletzt durch chronische Ressourcenknappheiten bedingt sind? Unbestritten bleibt, dass die Suche nach Alternativen zur Freiheitsstrafe bereits um 1900 mit der Entwicklung der Idee des bedingten Strafvollzugs einsetzt und sich bis zu den Reformen der Gegenwart hinzieht – mit keineswegs gesichertem Ausgang, wie in der Schweiz die jüngsten Vorschläge zur Überarbeitung des neuen Sanktionenrechts zeigen.

Das Entziehen der persönlichen Freiheit beschränkt sich (auch) in der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs auf das Strafrecht. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gilt das Einsperren von «Störern» der öffentlichen Ordnung in Zwangsarbeits-, Erziehungs- oder Irrenanstalten als probate Massnahme zur Lösung der drängenden sozialen Frage. Auch Flüchtlinge werden im 20. Jahrhundert interniert. Solche Freiheitsentziehungen gelten aus juristischer Sicht nicht als Strafe, auch wenn sie von den betroffenen Personen oft als solche empfunden werden. Rasch überzieht ein auswucherndes Netz von entsprechenden Anstalten die Schweiz. Mit der Vereinheitlichung des Zivil- und Strafrechts, aber auch Reformen der kantonalen Gesetzgebungen werden diese Institutionen in ein vergleichsweise stabiles Dispositiv eingebunden, das erst mit den gesellschaftlichen Liberalisierungsschüben nach 1960 zum Gegenstand massiver Kritik wird. Das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts steht dann im Zeichen der generellen Zurückdrängung und Zähmung freiheitsentziehender Sanktionen. So wird etwa die administrative Versorgung durch das Institut des Fürsorgerischen Freiheitsentzugs ersetzt, das die Rechtsstellung der Betroffenen verbessern soll. Gleichzeitig kommt aber auch erneut die Forderung nach einem verbesserten Schutz der Gesellschaft vor besonders gefährlichen Straftäter/innen auf.

Im Gegensatz zum umliegenden Ausland steht in der Schweiz die historische Beschäftigung mit dem Themenkomplex Freiheitsentzug, Strafe und Gefängnis noch in den Anfängen. In den letzten Jahren sind jedoch einige Arbeiten zur Geschichte des modernen Strafrechts und Strafvollzugs, zur Entwicklung der Kriminalstatistik, zur Institution der administrativen oder psychiatrischen Versorgung sowie zu einzelnen Anstalten erschienen, die das Ausmass und die Umrisse des Forschungsfelds erahnen lassen.

Der geplante Heftschwerpunkt von traverse greift diese bislang verstreuten Ansätze auf, versucht sie zu verbinden und möchte der weiteren Beschäftigung mit dem Thema Impulse zu geben. Von besonderem Interesse sind dabei folgende Fragestellungen und Themenbereiche:

- Entstehung der modernen Freiheitsstrafe im Übergang von der frühen Neuzeit in die Moderne: Welche Vorformen der modernen Freiheitsstrafe lassen sich in der frühen Neuzeit ausmachen? Welche Bedeutung bekommt dabei die Freiheitsentziehung (gegenüber andern Formen der Sanktionierung)? Welche Rolle spielen solche Vorformen bei der Umgestaltung des Strafjustizsystems um 1800? Warum und wie entwickelt sich die Freiheitsstrafe zur Hauptsanktion des modernen Strafrechts, das sich nach 1799 in einem längeren und je nach Kanton unterschiedlich ausgeprägten Prozess auch in der Schweiz durchsetzt? Erwünscht sind in diesem Zusammenhang auch Beiträge, die eine Brücke zwischen den Reformphasen des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts schlagen und insbesondere auch die Bedeutung von transnationalen Netzwerken und dem transnationale Wissensaustausch zum Strafvollzug in dieser frühen Phase des Freiheitsentzugs diskutieren.

- Ausbildung und Entwicklung unterschiedlicher Regime der Freiheitsentziehung: Welche Formen von Freiheitsentziehungen bilden sich im 19. und 20. Jahrhundert heraus? Wie werden sie politisch, rechtlich, aber auch institutionell voneinander und von andern Formen staatlichen Zwangs (z. B. vom Gemeinwerk) abgegrenzt? Wie entwickeln sie sich in quantitativer Hinsicht? Auf welche Bevölkerungsgruppen fokussieren sie? Welche räumliche Ordnungen und soziale Räume bilden die dafür vorgesehenen Institutionen aus? Lässt sich eine für die Schweiz spezifische «Gefängniskultur» ausmachen? Inwiefern kommt es zu Differenzierungen, aber auch zu Überlappungen der verschiedenen rechtlich-institutionellen Dispositive?

- Reform und Kritik des Freiheitsentziehung: Inwiefern lässt sich die Geschichte der Freiheitsentziehung und insbesondere des Gefängnisses als zyklische Abfolge von Erwartungen und Enttäuschungen verstehen? Welches waren die Akteur/innen, die sich zu unterschiedlichen Zeiten für eine Reform des Gefängnisses und anderer Vollzugsinstitutionen stark machten? Welches waren ihre Leitvorstellungen und Interessen? Wie lässt sich der Entwicklungspfad, den die Schweiz dabei einschlägt, im Vergleich zum umliegenden Ausland, aber auch zu andern Rechtskulturen wie den USA charakterisieren? Welche Rolle spielt die Intensivierung internationaler Kontakte im Bereich des Strafvollzugs für die Kritik und Reformbestrebungen und auf welche Weise sind die schweizerischen Experten des Gefängniswesens am transnationalen Wissenstransfer beteiligt. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang folgende Reformperioden: der Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert, die Entstehung des Sanktionenrechts des schweizerischen Strafgesetzbuches zwischen 1890 und 1940 und schliesslich die Auswirkungen des gesellschaftlichen Liberalisierungsschubs nach 1960 auf den Strafvollzug und andere Institutionen der Freiheitsentziehung.

Erwünscht sind Beiträge, welche die oben skizzierten Aspekte in einer historischen Perspektive diskutieren. Fallstudien sind ebenso willkommen wie Übersichtsdarstellungen. Der zeitliche Fokus liegt auf der Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Beiträge mit Rückblenden in die frühe Neuzeit sind aber ausdrücklich erwünscht. Ein Bezug zu den Entwicklungen in der Schweiz ist erwünscht. Besonders erwünscht sind auch Beiträge, die Vergleiche zwischen den Sprachregionen anstellen und die Entwicklung in der Schweiz in einem internationalen Kontext reflektieren.

Interessentinnen und Interessenten, die einen Beitrag im Umfang von max. 30’000 Zeichen (inkl. Leerschläge und Anmerkungen) verfassen möchten, sind gebeten, bis am 30. September 2012 ein Abstract von max. einer A4-Seite bei folgender Adresse einzureichen: Urs Germann, Stürlerstr. 12, CH-3006 Bern, ursgermann@bluewin.ch. Die Beiträge sind in einer ersten Fassung bis am 31. Mai 2013 abzugeben.

Verantwortlich für diesen Heftschwerpunkt:
Urs Germann, Daniel Fink , Regula Ludi, Bertrand Forclaz, Aline Steinbrecher

Programm

Kontakt

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Stürlerstr. 12, CH-3006 Bern

ursgermann@bluewin.ch