Katastrophen offenbaren sowohl soziale Funktionszusammenhänge als auch Gefahrenlagen. Ihre Analyse erlaubt damit tiefe Einblicke in den Maschinenraum der Gesellschaft. Als „focusing events“ eröffnen Katastrophen dem Forscher die Möglichkeit, sein Beobachtungs- und Analyseinstrumentarium scharf zu stellen und neue Aufschlüsse darüber zu erhalten, was Gesellschaften zusammenhält und was sie auseinandertreibt, was Ordnungen brüchig und was sie widerstandsfähig macht.
In den letzten Jahren hat sich eine interdisziplinär arbeitende und international vernetzte Katastrophenforschung herausgebildet. Sie versteht Katastrophen nicht als isolierte Sonderfälle und außergewöhnliche Ereignisse, sondern prozessual, als in die Entwicklung menschlicher Zivilisationen eingebettete Momente. Katastrophen gelten daher als „agents of cultural formation“ (Greg Bankoff) und „social laboratories“ (Virginia García-Acosta). Die dabei erarbeiteten Analysebegriffe „vulnerability“ und „resilience“ sind vor allem an Beispielen aus Gesellschaften der südlichen Hemisphäre entwickelt worden. Sie dienen dazu, im Kontext von Katastrophen wichtige Aspekte des Postkolonialismus, der Armut und autoritärer Herrschaft zu thematisieren. Die moderne Risikoforschung hingegen untersucht vor allem die entwickelten Industriegesellschaften der nördlichen Hemisphäre. Sie geht insbesondere näher auf die Bedeutung von Expertise, auf die Ansprüche auf soziale Partizipation und auf das (schwindende) Vertrauen in Technik, Wissenschaft und Politik ein.
Wie sich Osteuropa in dieser sich entwickelnden Forschungslandschaft verortet lässt, ist eine bislang unbeantwortete Frage. Noch hat sich die Osteuropa-Forschung nicht systematisch in die internationale Katastrophenforschung eingebracht. Das verwundert, weil sich Geschichte und Gegenwart Osteuropas durch eine Vielzahl von Katastrophen auszeichnen, die hohe Opfer fordern und große Aufmerksamkeit finden. Im Juli 2012 hat dies die verheerende Flutkatastrophe in Südrussland im Gebiet von Krasnodar noch einmal unterstrichen.
Der geplante Workshop hat darum zum Ziel, die Osteuropa- und die Katastrophenforschung zusammenzuführen. Es gilt, interessierte Forscher und Forscherinnen in Kontakt miteinander zu bringen. Zum einen ist zu erörtern, welche neuen Akzente die Osteuropaforschung zu setzen vermag, zum anderen inwieweit die gebräuchlichen Erklärungsmuster zur osteuropäischer Geschichte, Kultur und Politik durch katastrophengeschichtliche Perspektiven hinterfragt und bereichert werden können.
Im Mittelpunkt des Workshops stehen vor allem zwei größere Themenfelder:
1. Katastrophen als Katalysator des sozialen Wandels
Die Katastrophe schafft nicht nur Zerstörung; sie schafft auch Möglichkeit. Katastrophen bringen nicht nur Unheil; sie können auch zu Wandel und Umbruch führen. Mit der Katastrophe gehen gesellschaftliche Selbstbeobachtungsprozesse einher. Es kommt zu einer anstrengenden Reflexion über die Geltungs- und Gestaltungskraft der sozialen Ordnungen. In der postkatastrophalen Situation ergeben sich durch diese kritische Bestandsaufnahme kurzfristig neue Handlungsoptionen. Auch wenn diese keineswegs immer von den historischen Akteuren der Zeit genutzt werden, so bleibt doch festzustellen, dass Katastrophen oft einen letzten Schub geben, wenn sich Neues formiert. Ein schon in Gang befindlicher Prozess legt plötzlich erheblich an Dynamik zu und leitet einen beschleunigten sozialen Wandel ein, der im Extremfall sogar zum Niedergang der alten und zum Aufstieg einer neuen Ordnung führen kann.
Von besonderem Interesse für die Osteuropaforschung sind folgende Fragen:
- Wie werden die Zerstörungen bewältigt? Werden im Wiederaufbau neue Strukturen geschaffen und verbesserte Präventionsmaßnahmen realisiert?
- Verändern Katastrophen das Verhältnis zwischen dem politischen Zentrum und der Peripherie?
- Drängen bestimmte (wissenschaftlich-technische) Expertengruppen in die Öffentlichkeit und in die Politik, um mit ihren Lösungskonzepten den bedrohten Ordnungen mehr Sicherheit zu versprechen und damit sowohl an gesellschaftlicher Bedeutung als auch an politischem Einfluss zu gewinnen?
- Legitimieren oder delegitimieren Katastrophen und ihre Bewältigung die politischen Ordnungen?
2. Katastrophen als Kommunikationsereignisse
Katastrophen können verheimlicht und ihre öffentliche Verarbeitung unterbunden werden. Die meisten Katastrophen waren aber große Kommunikationsereignisse. Wer mehr darüber erfahren möchte, wie sich die soziale Kommunikation in einer Gesellschaft gestaltete, wird über die Analyse der Bedrohungskommunikation wichtige Einblicke in Medien- und Machtstrukturen, in den Gestaltwandel der Öffentlichkeit und in die Formen des gesellschaftlichen Angstmanagement erhalten. Die Grenzen des Sagbaren und Darstellbaren lassen sich in diesem aufschlussreichen Fokus näher bestimmen.
Neben den kommunikativen Energien, die durch Katastrophen entfaltet werden, interessieren auch die sozialen und kulturellen Folgen der öffentlichen Katastrophenbewältigung. Die mitreißende Emotionalisierung der Bedrohungskommunikation führt einerseits dazu, dass es zu Verteilungskämpfen und Ausgrenzungen kommt. Aggressionen brechen aus. Anderseits kann die Bewältigung von Katastrophen große Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt haben. Infolge von Solidarisierungen und Gemeinschaftsbildungen erfahren Gesellschaften und Gruppe ihre Verbundenheit.
Diese Thematiken werfen für die Osteuropaforschung wichtige Fragen auf:
- Welche Katastrophen werden verheimlicht? Über welche wird wie öffentlich berichtet?
- Haben sich in Osteuropa Katastrophentraditionen und Katastrophenkulturen ausgebildet?
- Welche Rolle spielen Katastrophen in der Erinnerungskultur der einzelnen Gesellschaften? Wie schreiben sich Katastrophen in das kulturelle Gedächtnis ein?
- Gibt es bestimmte Genres wie den modernen Katastrophenfilm, die Katastrophenerfahrungen vermitteln und prägen?
- Bieten Katastrophen in Osteuropa ausreichenden Stoff für Heldengeschichte, die den Pathos der Zeit und das gesellschaftliche Selbstverständnis zur Anschauung bringen?
Der CfP richtet sich an alle, die sich mit Natur- und Technikkatastrophen, aber auch mit Hungersnöten, Epidemien und Epizootien in Osteuropa beschäftigen. Gewünscht sind neben Vorträgen zu vergangenen Katastrophen im gleichen Maß Studien zu aktuellen Katastrophende-batten und zu zukünftigen Katastrophenszenarien. Der Workshop verfolgt das Ziel, nicht nur die unterschiedlichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch Geschichte und Zeitgeschehen zusammenzuführen. Die Publikation ausgewählter Vorträge in Form eines Sammelbands oder eines Themenhefts ist vorgesehen.
Der Workshops findet vom 14. bis zum 15. Februar 2013 in Tübingen statt. Tagungssprache ist Deutsch; Vorträge können auch in englischer Sprache präsentiert werden.
Erbeten wird ein Abstract in elektronischer Form (4.000-6.000 Zeichen) bis zum 15. Oktober 2012 an die Mailadressen der beiden Organisatoren:
marc.elie@cercec.cnrs.fr
klaus.gestwa@uni-tuebingen.de
Die zum Workshop Eingeladenen senden ihr ausformuliertes Paper (max. 40.000 Zeichen) bis spätestens 10. Januar 2013 den beiden Organisatoren zu, damit dieses anschließend allen Teilnehmern des Workshops übermittelt werden kann. Auf dem Workshop stehen den Vortragenden 15 Minuten zur Kurzpräsentation ihres Papers zur Verfügung, um viel Platz für die gemeinsame Diskussion zu haben.
Die Reise- und Unterbringungskosten werden vom SFB 923 gemäß Bundesreisekostengesetzes erstattet.