Tagung der Kommission Arbeitskulturenn
Nicht nur in den entwickelten Industriegesellschaften befinden sich die aktuellen Lebensverhältnisse unter einem Veränderungsdruck, der maßgeblich von einem neuen Arbeitsmarktregime ausgeht. Im Zuge der Deregulierung und Flexibilisierung von Arbeit, der Entstandardisierung von Erwerbsbiografien sowie der fortschreitenden Entgrenzung von Arbeits-und Lebenswelt sehen sich die Subjekte aktivierenden Herausforderungen arbeitsmarktkonformer Haltungen ebenso gegenüber wie psychosomatischen Belastungen. Das solchermaßen arrangierte postfordistische Arbeitsparadigma beeinflusst die Umfeldbedingungen von Arbeit wie auch von Nicht-Arbeit, indem es die gesamte Persönlichkeit einbezieht. Derart etabliert sich unter dem Regiment des internationalen Finanzmarktkapitalismus ein Ensemble der gesellschaftlichen Bedingungen, das bis auf den mentalen Bereich der Subjektivität formend einwirkt: Diesseits und jenseits von Arbeit sehen sich die Individuen in Beziehung gesetzt zu widersprüchlichen Technologien zwischen entfesselter Rationalisierung und Verausgabung, zwischen einer Verbetriebswirtschaftlichung der alltäglichen Lebensführung (Voss/Pongratz) einerseits und der Emotionalisierung des ökonomischen Bereichs (Illouz) andererseits. Neben die Faktoren Wissen, Moral, Leistungsfähigkeit und Kreativität tritt der breite psychische Bereich von Empathie und Gefühlen. Im Zuge ihrer Eingemeindung in die fortbestehenden Disziplinierungs- und Machtstrukturen des Arbeitslebens wie darüber hinaus geben sich diese neuen Kapitalarten (Bourdieu) nicht nur als schmückendes Beiwerk zu erkennen, sondern als eine unmittelbar ökonomische Kategorie.
Dieser Befund zur Spätmoderne ist in der Lage, Reflexionen auch jenseits der skizzierten ökonomischen Situation zu perspektivieren, etwa 1) auf Tätigkeiten außerhalb von arbeitsmarktbezogener fremd- oder selbstbestimmter Arbeit wie Hausarbeit, Hobbywelten, Basteluniversen etc. sowie auf Praxen der subjektiv kategorisierten Freizeitgestaltung; 2) auf mentale und immaterielle Dimensionen ökonomischer Aktivität in kulturgeschichtlichem Rückblick oder im interkulturellen Vergleich; 3) auf Variationen des Umgangs mit mentalen und immateriellen Komponenten in ökonomischen Bezügen hinsichtlich Alter und Geschlecht. Analytisches Potenzial besitzt auch die Anatomie der Assemblage zwischen Wissen und Gefühl, Einstellungen und Stimmungslagen. Die Pluralität der Erscheinungsformen, Strukturprofile und Wahrnehmungsweisen immaterieller Zumutungen zwischen Prekarisierungserfahrung, Ausnahmezustand und Routine verspricht vertiefende Einblicke auf die persönlichen Strategien und sozialen Praxen der Betroffenen im Umgang mit den neuen Anforderungen an ökonomische Produktivität und die damit verkoppelten gesellschaftlichen Verhältnisse. Nicht zuletzt stellt sich in einem Kontext, der sich durch die strukturelle Auflösung der Dichtomie von Arbeit und Nicht-Arbeit zugunsten einer umfassenden Ökonomisierung der Lebensverhältnisse auszeichnet, auch die Frage nach dem Geltungsumfang des Arbeitsbegriffs in neuer Qualität.
Neben den genannten Perspektivierungen sind Beiträge insbesondere zu folgenden Aspekten erwünscht:
- Empathie, Gespür, Geschmack zwischen psychopolitischem Managementstrategien (Foucault) und einem Erfahrungswissen, das sich nicht nur auf einem theoretischen bzw. kognitiv erlernten Wissen aufbaut, sondern sich in der aktiven Interaktion mit der gesellschaftlichen Umwelt herausbildet.
- Care-Ökonomie, Gefühlsarbeit (Hochschild), Sexuelle Arbeit (Kuster/Lorenz);
- Befindlichkeiten, moralische Diskurse und Verhaltensarrangements angesichts des Aktivierungsparadigmas als ökonomischer Forderung und als neuem Modus sozialstaatlicher Interventionen (Lessenich);
- Topografien emotionaler Belastungen: Stress, Depression, Erschöpfung (Keupp, Ehrenberg);
- Subjektive Aushandlungsprozesse, Ausweichstrategien und Widerstandsmodi gegenüber der Etablierung immaterieller Arbeitsfaktoren, Selbstoptimierungszwängen und Selbstsorge;
- Historische Perspektiven auf sich verändernde Forderungen hinsichtlich der Produktion und dem Umgang mit Gefühlen in der Arbeitstätigkeit und am Arbeitsplatz (Frevert: Angst vor Gefühlen?)
In besonderer Weise sind Beiträge erwünscht, die die Thematik mit Bezug auf Ostdeutschland und dessen östliche Nachbarstaaten behandeln. Explizites Interesse besteht an Beiträgen, die die Thematik aus ethnografisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive im Zugriff auf konkrete soziale Praxen, in Alltagskontexten bzw. auf der Mikroebene untersuchen (Feldforschung, qualitative Interviewanalyse, Medien- und Diskursanalyse, Bildanalyse, Archivalienforschung). Neben Beiträgen aus der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie/Empirischen Kulturwissenschaft/Volkskunde sind ebenfalls Beiträge aus der Soziologie, der Psychologie und den Kommunikations- und Geschichtswissenschaften willkommen.
Abstracts im Umfang von 1 Seite (max. 3.000 Zeichen inklusive Leerzeichen) werden bis 30. November 2012 per E-Mail erbeten an folgende Adresse: manfred.seifert@mailbox.tu-dresden.de (Prof. Dr. Manfred Seifert, Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., Zellescher Weg 17, D - 01069 Dresden).
Das Abstract sollte folgende Angaben enthalten: Vorstellung des Vortragsthemas, des theoretischen und methodischen Zugriffs sowie Angaben zur Person mit Skizzierung des wissenschaftlichen und beruflichen Kontexts.