Imaginäre Dörfer - Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Siedlungsvorstellungen der Gegenwart

Imaginäre Dörfer - Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Siedlungsvorstellungen der Gegenwart

Veranstalter
Prof. Dr. Werner Nell, Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistisches Institut, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Marc Weiland, Landesforschungsschwerpunkt Aufklärung - Religion - Wissen, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Veranstaltungsort
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.09.2013 - 07.09.2013
Deadline
18.02.2013
Website
Von
Marc Weiland

Auch das Dorf gibt es nicht mehr. Politische Neuordnungen, Veränderungen der Erwerbsstrukturen, demografischer und infrastruktureller Wandel führen in Europa und darüber hinaus in globalen Zusammenhängen zu grundlegenden Umgestaltungen traditionell geprägter menschlicher Lebenswelt(en). Diese Veränderungen machen auch vor einer der ältesten Wohn- und Beheimatungsformen (vgl. Troßbach 2005) der europäischen Zivilisationsgeschichte nicht Halt: dem Dorf. Während Industrialisierung und Modernisierung im Blick auf die „globale Stadt“ nicht nur zur Entstehung von Mega-Städten, stadtähnlichen Landschaften, weiträumigen Stadt-Landkontinua und damit verbunden zu einer Aufladung des Stadtraums mit unterschiedlichen Nachbarschaften, Erfahrungsräumen, multikulturellen Lebenswelten und neuartigen Orten der Zusammenführung von Menschen (von Marktplätzen über Kulturzentren bis zu den „Nicht-Orten“ der Flughäfen, Shopping Malls und Fastfood-Restaurants) geführt haben, scheint die Welt des Dorfes vor diesem Hintergrund vornehmlich der Vergangenheit anzugehören.

Vom Lebens- und Interaktionsraum in den Bereich der Folklore und Nostalgie verschoben, ist das traditionale (alteuropäische) Dorf scheinbar nur noch als Rand und Gegenbild zur Welt der Moderne zu gebrauchen. Als „verlorene Lebenswelt“ (Laslett 1987) kommt es (im Vergleich zu Metropolen und Großstädten) in der allgemeinen Berichterstattung und so auch im Selbstverständnis „moderner“, „aufgeklärter“ und „fortschrittlicher“ Menschen kaum bzw. gar nicht vor. Es sei denn: als symbolisch erzeugter und idealisierter Kompensationsraum im Rahmen der gegenwärtig wahrnehmbaren „Land-Euphorie“, die zwar derzeitige (urbane) Lebenseinstellungen und -formen beeinflusst, das soziostrukturelle Aussterben ruraler Regionen jedoch de facto nicht verhindert (vgl. z.B. Der Spiegel 44/2012). Ganz besonders betroffen sind davon die ländlichen mittel- und osteuropäischen Räume, nicht zuletzt aufgrund der durch die Ost-West-Teilung Europas forcierten ungleichzeitigen Entwicklung; ebenso aber auch Dörfer und Landschaften an den Peripherien der noch immer nationalstaatlich vorhandenen regionalen Grenzen, z.B. im Elsass, in der Westpfalz, in der Eifel und in den Ardennen.

Gelten die westeuropäischen Dörfer in dieser Hinsicht vornehmlich als Restgrößen, historische Residua, deren Verschwinden in Feier- und Erinnerungsstunden betrauernd konstatiert wird und denen allenfalls für touristische Projekte oder wochenendliche Erholung noch eine Bedeutung zukommt, so verfügen die Dörfer Mittel- und Osteuropas neben ihrer immer noch vorhandenen und mittelfristig wohl auch fortbestehenden Funktion als Siedlungsform und Wirtschaftsraum über eine deutlich kulturell getönte Aufladung, die sowohl hinsichtlich der Fragen sozialer Legitimation (bspw. von Traditionen) als auch im Blick auf ihre Funktionalisierung für Kulturkritik, alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsentwürfe und nicht zuletzt als Gestaltungsreservoir für literarische und andere künstlerische Produkte in Erscheinung tritt. Dass dabei immer auch personale Orientierungswünsche und gruppenspezifische Allokationserwartungen mitschwingen, lässt sich an entsprechenden Heimatdiskursen und ihren Konjunkturen ebenso ablesen wie an deren massenmedial inszenierten und popularkulturell genutzten Umsetzungen (Türcke 2006; Gebhard u.a. 2007).

Dabei befindet sich die Welt des mittel- und osteuropäischen Dorfes in einer paradoxen Zwischenstellung: als längst vergangene ist sie noch immer real vorhanden – nicht zuletzt deshalb, weil sie immer auch eine erfundene (und ggf. ideologisch überformte) ist: die des inklusiven europäischen Anderen (Wolff 1994; Wolff 2000; Wischenbart 1992). Diese Verschiebungen und Überformungen realer historischer und kulturgeographischer Gegebenheiten in die Bereiche der personalen und kollektiven Einbildungskraft und Erinnerungslandschaft bilden spätestens seit dem Ende des Ost-Westkonflikts und der bis dahin faktisch gegebenen Teilung bzw. Beschränkung von Mobilität und Migration sowohl den Hintergrund als auch einen Einsatzpunkt für eine steigende literarische und filmische Thematisierung von ost- und mitteleuropäischen Dörfern, welche als imaginative Größen im Vorstellungshaushalt der Gegenwart offenbar eine Wiederkehr feiern. Das kann durchaus im Zusammenhang mit Tendenzen gesehen werden, die sich innerhalb der jeweiligen Gesellschaften meist im Spannungsfeld von Metropolen und Peripherien beobachten lassen. So wurde in letzter Zeit nicht nur im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl an literarisierten Dorf- bzw. Landgeschichten publiziert. Zum beständigen (auch wesentlich medialen) Interesse an Inszenierungen (vom nahezu ubiquitären bayrischen Oktoberfest bis zur Volksliedparade) gesellen sich nun auch neue lebensreformatorisch angehauchte Praktiken (wie „urban gardening“) sowie massen- und popkulturelle Vereinnahmungen von „Landliebe“ und „Landlust“ (so der Titel zweier inzwischen auflagenstarker Magazine, die nicht zuletzt mit ähnlichen Bedeutungsgehalten spielen wie das erfolgreiche TV-Format „Bauer sucht Frau“), welche sich allesamt sowohl auf die allgemeinen Vorstellungen einer „guten Stadt“ und eines „guten Lebens“ (Nell 2012), aber eben auch auf „handfeste“ Stadt-, Siedlungs- und Raumplanung auswirken (Baum u.a. 2012). Das Dorf erscheint hier nicht nur als rückwärtsgewandte Utopie und lebensferne Idylle, sondern auch als eine ebenso individuell zugängliche wie sozial herstellbare Heterotopie, die neue (alte) Sinnhorizonte politischer, wirtschaftlicher und individueller Art eröffnet.

Im Blick auf die imaginative Vergegenwärtigung bzw. „Wiederkehr“ des Dorfes sind es v.a. die künstlerischen Darstellungsweisen, die die subjektiven und kulturellen Erfahrungs- bzw. Wahrnehmungsweisen von Orten verbildlichen, verdichten und auch verzerren und dadurch auf direktem und indirektem Wege gleichermaßen orientierend und desorientierend auf unsere Weltwahrnehmung wirken. Geht man davon aus, dass eine allgemeine Raum-Struktur und Raum-Anschauung nicht an sich gegeben ist, sondern erst vermittels einer bestimmten Sinnordnung geschaffen werden muss (vgl. Cassirer 1985), dann kommt der imaginativen Raumgestaltung eine grundlegende Bedeutung zu. Literatur und Film bieten mehr als nur einen Erinnerungsraum, der längst Vergangenes bewahrt. Sie erschaffen Vorstellungsbilder von Orten, an denen wir selbst nie waren und die es möglicherweise gar nicht (mehr) gibt. Damit eröffnen sie häufig aber auch ungeahnte Anknüpfungs- und Verbindungslinien zwischen Orten und Menschen in Ost und West und schaffen einen – auch an den Publikationserfolgen osteuropäischer Dorfgeschichten (bspw. von Olga Torkarczuk oder Andzej Stasiuk) auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ablesbaren – Wunsch- und Projektionsraum, der nicht nur Ansatzpunkte für weitere künstlerisch-imaginative Gestaltung und Reflexion, sondern darüber hinaus auch einen Vorrat an Vorstellungen und Formen für konkrete Raumplanung, Siedlungsgestaltung und soziologische Entwürfe geselligen und gesellschaftlichen Zusammenlebens bietet.

In der zeitgenössischen Literatur lässt sich dabei eine enorme Breite und Vielfalt der Dorf-Bilder verzeichnen: Romantische bzw. romantisierende Paradiesvorstellungen stehen gegen Leib und Seele versehrende und verzehrende Lagersituationen. Die Reise in bzw. das Entkommen aus dem Dorf kann gleichermaßen Anfangs- und Endpunkt von Selbstfindung und Selbstentfremdung bedeuten. Je nach Perspektive bieten Dorf und Landschaft sowohl Räume des Eigentümlichen als auch Räume der Fremdbestimmung, in denen neuer Kapitalismus und totalitäres Erbe ihre Spuren auf Land und Leuten hinterlassen. Doch fordert ebenso der Einbruch des Fremden (Waldenfels 1997) in die Lebenswelt des Dorfes eine spezifische Reaktion. Werner Schiffauers Studien zu den „Fremden“ in der kosmopolitischen Stadt (1997) wären gerade unter den mit der Erscheinung des/der Fremden in lokalen Rahmungen verbundenen globalen Entwicklungen (Robertson 1998) im Blick auf das „kosmopolitische“ Dorf zu ergänzen: ein Ansatzpunkt, der auf der Tagung und ggf. innerhalb des Projektes weiter zu verfolgen ist.

Aber auch in der Wirkung von und Reaktionsbildung auf übergreifende politische und soziale Prozesse und Projekte geraten einstmals statische und in sich geschlossene „Dörfer in Bewegung“ (Beetz 2004). Ländliche Strukturen erhalten Einzug in die Stadt, Dörfer werden städtisch ausgerichtet. Allerdings führen aktuelle wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen nicht nur zu Transformationen von Traditionen, sondern auch zum „Verschwinden“ ganzer Landstriche. Doch ist dies nur einer der Gründe dafür, dass das (v.a. osteuropäische) Dorf häufig als „Ende der Welt“ oder auch als „Gefängnis der Zeit“ stilisiert wird. Krieg, Vertreibung und Völkermord hinterlassen geografische und menschliche Leerstellen und Ruinen. Daher stellt sich auch die Frage, ob den Schriftstellern und Filmemachern nichts weiter übrig bleibt, als eine „melancholische Geographie“ (Andrzej Stasiuk) eines „verschwindenden Europas“ (Raabe/Sznajderman) zu zeichnen? Oder ob dies nicht gerade auch zu einer Wieder- bzw. Neuentdeckung Ost- und Mitteleuropas führt – angetrieben von einer „fiktiven Landeskunde“ (Juri Andruchowytsch), die das kulturelle und subjektive Imaginäre des jeweiligen Ortes mit einbezieht, in der sich Klischees vom „wilden Osten“ mit traditionellen und neuen Mythen mischen und die ein reiches Panoptikum an Vorstellungs- und Empfindungsbildern bietet? So zum Beispiel in Bezug auf das in den europäischen und nordamerikanischen jüdischen Literaturen immer wieder entworfene, fokussierte, verloren gegangene und imaginativ wieder aufgefundene Shtetl (zuletzt vielbeachtet im Bestseller von Jonathan Safran Foer (2003) und in der entsprechenden Verfilmung) oder die Dörfer und Landschaften sowohl an den Grenzen als auch im Herzen osteuropäischer Länder (wie z.B. in den Werken von Terezia Mora und Herta Müller oder im regional ausgerichteten polnischen Film, etwa bei J. Kusz). Lässt sich unter diesen Gesichtspunkten möglicherweise von einem neuen Heimat- und Dorfroman (resp. -film) sprechen, der u.a. den spezifischen Bedingungen des migrantischen und/oder postmodernen Erzählens Rechnung trägt? Treten dabei auch andere literarische und filmische Formen in den Vordergrund, wie z.B. der Essay, der Atlas oder die Bildreportage? Lassen sich Transformationen des Stoffes im Übergang vom einen ins andere Medium feststellen (bspw. im Vergleich der Romane László Krasznahorkais mit deren Verfilmungen durch Béla Tarr)? Und inwiefern kommt in alledem eine spezifisch dörfliche und landschaftliche Ästhetik zum Ausdruck – gegebenenfalls gar an der Schnittstelle und im Spannungsverhältnis zu einer Ästhetik der Natur und einer Ästhetik des Urbanen? Im Rahmen imagologischer Fragestellungen sind hierbei nicht nur die Bedingungen, Grenzen und Möglichkeiten der Produktion und Rezeption von Bildern über (fremde und eigene) Orte, sondern auch das spezifische Verhältnis der Trias Raum, Zeit und Individuum innerhalb sog. „Geopoetiken“ (z.B. Marszałek/Sasse 2010) zu diskutieren. Einerseits ist in dieser Perspektive zu klären, wie das Dorf und der häufig sehr eng damit verknüpfte Begriff der Heimat (vgl. Schmidt 1999; Vlusser 1987) theoretisch und praktisch zu fassen sind. Andererseits sind die Konzepte von „Ost“ und „West“ nicht nur in ihrer perspektivischen Gebundenheit, sondern auch bezüglich möglicher Verschiebungen und Verschmelzungen der verschiedenen (nicht nur politischen) Grenzen zu hinterfragen.

Forschungsfragen:

- Ansatzpunkte einer aktuellen Topik, Rhetorik und Poetik des Dorfes

- Transformationen traditioneller literarischer und filmischer Formen und Stoffe des Dorfes

- erkenntnistheoretische Möglichkeiten und Grenzen literarischer Topografien und Imagologien

- neue Praktiken dörflichen Lebens

- Interferenzen ländlicher und städtischer Mobilität und deren rekursive Ausarbeitung

- Stadtplanung und Stadtimagination: Wechselbeziehungen und Kontroversen

- Dörfer und Städte in der Populärkultur

- Europäische Dörfer?

- Phänomenologie und Stadtplanung zwischen Kultur- und Sozialkritik

- Was ist ein „gutes“ Dorf? Wie viel Imagination brauchen gelingende Sozialräume und woher sollen sie kommen?

Eine Publikation der Beiträge ist geplant. Die finanzielle Unterstützung der Reise- und Unterkunftskosten für Vortragende wird bei einer Stiftung beantragt. Wir raten jedoch dazu, auch individuelle Finanzierungsmöglichkeiten anzustreben.

Wir bitten um Abstracts (max. eine A-4 Seite) für einen 30-minütigen Vortrag inkl. einer kurzen biografischen Notiz mitsamt Kontaktdaten bis zum 18. Februar 2013 per E-Mail an:

werner.nell@germanistik.uni-halle.de

marc.weiland@netzwerk-arw.uni-halle.de

Programm

Kontakt

Werner Nell
Germanistisches Institut
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
werner.nell@germanistik.uni-halle.de

Marc Weiland
Landesforschungsschwerpunkt Aufklärung - Religion - Wissen
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
marc.weiland@netzwerk-arw.uni-halle.de


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