WerkstattGeschichte-Themenheft „Scheitern“

WerkstattGeschichte-Themenheft „Scheitern“

Veranstalter
WerkstattGeschichte
Veranstaltungsort
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.01.2014 -
Deadline
10.01.2014
Website
Von
Nina Mackert, Universität Erfurt

„Failure is the great modern taboo. Popular literature is full of recipes for how to succeed but largely silent about how to cope with failure.” 1 Diese vielzitierte Aussage von Richard Sennett zur gesellschaftlichen Tabuisierung des Scheiterns dürfte inzwischen wohl als überholt gelten. Im Gegenteil: Scheitern hat Konjunktur – und die Beschäftigung damit ebenso. Dies zeigt beispielsweise ein Blick auf das wachsende Angebot der populären Ratgeberliteratur, die in krisengeschüttelten Zeiten freilich zweckoptimistisch „Scheitern als Chance“ verkauft. Doch auch in den historischen Wissenschaften ist das Thema längst angekommen, nicht zuletzt mit dem positiv aufgenommenen Sammelband „Scheitern und Biografie“ von Stefan Zahlmann und Sylka Scholz 2. Vielversprechend wurden hier Scheitervorstellungen und -erfahrungen mit Fragen nach dem Nexus von Individuum und Gesellschaft sowie von Selbst- und Fremdbildern verknüpft. Scheitern hat, so tragen die Beiträge zusammen, historisch eine umfassende Bedeutung angenommen. Dies zeigt auch Scott Sandage, der am Beispiel von Geschäftsleuten in den USA des 19. Jahrhunderts analysiert, wie ein ökonomischer Bankrott von einem individuellen, traumatischen Ereignis zu einem Zeichen für ein gescheitertes Leben wurde. Sandage kennzeichnet dies als einen Wandel „from ordeal to identity“ 3.

Kann Scheitern damit weiterhin als die „andere Seite“ der Lebensgeschichte (wie im Untertitel bei Zahlmann/Scholz) begriffen werden? Oder sollte der vermeintliche Ausnahmecharakter des Scheiterns kritisch befragt werden müssen? Schließlich benötigen Vorstellungen von Erfolg stets auch Vorstellungen von Scheitern; Subjekte als erfolgreich zu begreifen, bedeutet immer, dass es gescheiterte gibt. Die steten Aufforderungen zur rechten Selbstführung etwa, die in den historischen Gouvernementalitätsstudien erforscht werden, produzieren gleichzeitig Subjekte, die als gescheitert gelten 4. Wenn wir Scheitern damit nicht als Ausnahme, sondern als regelhaftes Moment betrachten, was gerät dann in den Blick? Und welches Potential von Selbstbestimmung / Widerstand und historischem Wandel lässt sich durch die Sonde Scheitern betrachten?

So kann eine Bewegung, Idee oder Gruppe im Hauptnarrativ als gescheitert gelten, aber dennoch viel zu einer gesellschaftlichen Erneuerung, Verschiebung von Wertvorstellungen oder langsamen Veränderung in Teilen des politischen Systems oder der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen. (Beispielhaft aufgelistet werden könnten hier „gescheiterte“ RevolutionärInnen, von Arbeitslosigkeit Betroffene, „nichtintegrierte“ MigrantInnen, Angehörige vermeintlicher „Parallelgesellschaften“, NutzerInnen von Drogenräumen, Heiminsassen, Psychatrieinsassen, Prostituierte/SexarbeiterInnen, DissidentInnen/ExilantInnen, StraftäterInnen, Ungelernte, Obdachlose, „AussteigerInnen“).

Wenn Scheitern aber ein regelhaftes Moment darstellt, stellt sich die Frage nach den Machtprozessen und gesellschaftlichen Hierarchien, die mit historischen Vorstellungen von Scheitern verbunden sind, neu. Sandage etwa schreibt, dass mit der Ausweitung bzw. Veränderung der Bedeutung von Scheitern auch andere Bevölkerungskreise als weiße Geschäftsleute „scheiterfähig“ geworden seien: Frauen, ArbeiterInnen, African Americans 5. Der Begriff der „Scheiterfähigkeit“ könnte mithin auf die Frage verweisen, ob und inwiefern mit dem Reklamieren des Scheiterns wiederum kulturelles Kapital bereitgestellt wird. Lässt sich vielleicht davon sprechen, dass Scheitern in Zeiten des homo oeconomicus auch zu einer gesellschaftlichen Ressource geworden ist, in die sich Individuen einschreiben können?

Die Themenredaktion der WERKSTATTGESCHICHTE widmet ein Heft den VerliererInnen, VersagerInnen und Glücklosen (und jenen, die als solche gelten wollen oder sollen). Denn trotz der ersten spannenden Vorstöße in Richtung des Nicht-Erfolgsstory-Erzählens geht es in den Geschichtswissenschaften auch heute noch vor allem um die Beschreibung von Ereignissen, Zusammenhängen und Brüchen, die irgendwohin „führten“, eine „Entwicklung“ aufzeigen oder das „Gewordene“ erklären wollen. Biographien werden geschrieben über Menschen, die einen „Beitrag“ leisteten. Anders als gescheiterte Staaten, Systeme und technische/wissenschaftliche (Groß-)Projekte möchten wir die Vielfältigkeit von menschlichem Scheitern in den Blick nehmen.

Gesucht werden Beiträge aus der Frühen Neuzeit bis zur Zeitgeschichte, die sich sowohl mit dem individuellen, subjektivierten, biographischen Scheitern als auch mit kollektivem Scheitern befassen und dabei die ggf. bestehenden Konflikte über (Selbst-)Deutungen und Zuschreibungen des Scheiterns berücksichtigen.
Mögliche Fragestellungen können sowohl auf die Möglichkeitsbedingungen und persönliche wie gesellschaftliche Umgangsweisen mit dem Scheitern zielen als auch sich zeitlich, räumlich und kulturell unterschiedlichen Wahrnehmungen, Definitionen oder Zuschreibungen von Scheitern widmen sind:

- Wann und wie oder in welchen Kontexten wird Scheitern überhaupt möglich? Wem wird ein Scheitern zugestanden? Oder anders gesagt: Wer ist „scheiterfähig“? Und wie wird Scheitern gesellschaftlich markiert?
- Wie sieht der Umgang mit dem Scheitern aus? Was bedeutet das (vermeintliche) Scheitern für einen Lebensweg? Wie verarbeiten Menschen das Etikett, gescheitert zu sein?
- Was sagt die Gesellschaft über die Uneindeutigkeiten des Scheiterns?
- Wie und woran wird Scheitern gemessen? Sehen sich Menschen gar als gescheitert an, obwohl sie von anderen (oder in der Rückschau) zu den Gewinnern der hegemonialen Gesellschaftsordnung gerechnet werden?
- Welche kulturellen oder auch nationalen Unterschiede können in Auffassungen vom Scheitern vorgefunden werden? Lassen sich in transnationaler Perspektive Verschiebungen in diesen Auffassungen beobachten?
- Wie wird Scheitern von anderen Zuschreibungen abgegrenzt? Wie wird das Verhältnis von Scheitern, Versagen, Misslingen bzw. Nichtkönnen (und den jeweils möglichen Gegenbegriffen wie Erfolg, Gelingen oder Erreichen) bestimmt? Wer gilt z.B. als Versager, wer als „Opfer der Verhältnisse“?

Abgabe des Exposés (3000-5000 Zeichen): bis zum 10. Januar 2014.
Annahme/Ablehnung des Exposés: bis zum 28. Februar 2014.
Abgabe des Beitrags (40.000 bis 70.000 Zeichen inklusive Leerzeichen): bis zum 30. September 2014.

Wir laden alle historisch Arbeitenden ein, uns ein Exposé von 3000-5000 Zeichen in gängiger Dateiform (rtf, co, docx, odc, pdf*) in dem die zentrale These(n) und Aufbau des Aufsatzes ersichtlich werden, sowie eine kurze Notiz zur Person an folgende Adressen zu schicken:

Julia Kleinschmidt: jkleins[at]gwdg.de
Nina Mackert: nina.mackert[at]uni-erfurt.de
Georg Wamhof: gwamhof[at]gmx.de

1 Sennett, Richard: Failure, in: Graeme Salaman (Hg.): Understanding Business Organisations, London: Routledge, 2001, S. 203.
2 Zahlmann, Stefan; Scholz, Sylka (Hg.): Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, Gießen: Psychosozial-Verlag, 2005.
3 Sandage, Scott A.: Born Losers. A History of Failure in America, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2005, S. 4.
4 . B. Rose, Nicolas: Governing the Soul. The Shaping of the Private Self, London/New York: Routledge, 1989; Martschukat, Jürgen: Eine kritische Geschichte der Gegenwart, in: WerkstattGeschichte 61/2 (2012), S. 15-27.
5 Sandage, Born Losers, S. 4.

Programm

Kontakt

AnsprechpartnerInnen in der Themen-Redaktion von WerkstattGeschichte:

Julia Kleinschmidt: jkleins[at]gwdg.de
Nina Mackert: nina.mackert[at]uni-erfurt.de
Georg Wamhof: gwamhof[at]gmx.de