-- English version below--
Der Begriff „Überlebende“ umfasst in den Geistes- und Sozialwissenschaften heute eine Vielzahl von Bedeutungsebenen. Im deutschen Kontext werden unter Überlebenden vor allem Personen verstanden, die als Jüdinnen und Juden während der Jahre 1939-1945 die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in Deutschland und im besetzten Europa überlebten. Menschen, denen es gelang, rechtzeitig ins Exil zu flüchten und die in der Emigration überlebten, werden als EmigrantInnen oder ExilantInnen bezeichnet, nicht aber als Überlebende. Die US-amerikanische Shoah Foundation verwendet ein weiter gefasstes Begriffsverständnis und bezeichnet alle für das Visual History Archive interviewten Jüdinnen und Juden, gleich welche Erfahrungen sie durchlebten, als Überlebende (survivors). Beides zeigt exemplarisch die Wirkungsmacht einer kollektiven Fremdzuschreibung des Überlebendenstatus. Anders als die bereits ausführlich diskutierten Kategorien Opfer und ZeugInnen, ist der Begriff Überlebende bisher noch nicht in diesem Umfang diskutiert worden.
Wendet man sich den Selbstnarrativen der Shoah-Überlebenden oder auch jüdischen communities zu, so eröffnen sich neue Interpretationswege des Begriffs. Die jüdischen Displaced Persons im besetzten Nachkriegseuropa bezeichneten sich zunächst nicht als Überlebende, sondern als She'erit Hapletah, als „Rest der Geretteten“. Alle noch lebenden Juden Europas gehörten diesem selbstdefinierten Kollektiv an, unabhängig davon, wo und wie sie der Vernichtung entkommen waren. Zu ihnen gehörten auch jene Menschen, die rechtzeitig vor den Nationalsozialisten in die Sowjetunion fliehen konnten bzw. vom sowjetischen Geheimdienst deportiert wurden. Der Großteil dieser zumeist aus Polen stammenden Überlebenden hielt sich nach dem Krieg nur kurz in der alten Heimat auf und floh in die Lager für Displaced Persons im besetzten Deutschland. Dort wurden ihre spezifischen Erfahrungen und Erinnerungen jedoch marginalisiert.
Im Zentrum des Workshops steht die Frage nach den unterschiedlichen semantischen und politischen Bedeutungsebenen des Begriffs „Überlebende“ im zeitlichen Verlauf seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es gilt die unterschiedlichen disziplinären und nationalen Verständnisse des Begriffs zu herauszuarbeiten und kritisch zu analysieren. Diese Fragen sind nicht neu, sollen aber aus gegenwärtiger Perspektive neu gestellt werden. Folglich wird zu fragen sein, unter welchen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen Menschen überhaupt erst ein Forum für ihre Erinnerung in der Öffentlichkeit erhalten. In den letzten Jahrzehnten ist in vielen Ländern eine zunehmende Öffnung des Überlebendenbegriffs – beispielsweise im Zuge der aktuellen Restitutionsdebatten in Europa – zu beobachten. Welche Absichten sind damit verbunden und wie vollzieht sich diese semantische Erweiterung in der Praxis?
Mögliche Themen für Vorträge könnten sein:
- juristische Definitionen von Überlebenden und ihre Folgen
- andere Definitionen des Überlebendenbegriffs und ihre Wirkmächtigkeiten
- jüdische und nicht-jüdische Zugänge zum Überlebenden
- Wiedergutmachung und Entschädigung an Überlebende
- Narrative des Überlebens
- Leerstellen und Tabus des Überlebens
- Status und Rolle der Überlebenden in der Erinnerungskultur eines Landes
- Foren und Funktionsweisen des Erinnerns an das Überleben
- nationale und transnationale Bedingungen für die Erfindung/Entstehung des Überlebenden
- Überlebende in Doppelfunktion, z.B. als HistorikerInnen, SchriftstellerInnen oder PolitikerInnen
- Medialisierungen des Überlebens
- Geschlecht als Einflusskategorie in Semantik und Politik des Begriffs
- Einfluss aktueller politischer Debatten und Befürchtungen auf die Definition des Überlebendenbegriffs
Für die Keynotes des Workshops haben Prof. Dr. Atina Grossmann (Cooper Union New York, DAAD Walter Benjamin Gastprofessur), Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum (Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin) sowie Dr. Anne Rothe (Wayne State University, Detroit) zugesagt.
Arbeitssprachen des Workshops sind Deutsch und Englisch. Die Publikation ausgewählter Vorträge wird angestrebt. Eine Teilfinanzierung der Kosten für den Workshop ist beantragt, Interessierte sind jedoch angehalten, ihre Reise- und Übernachtungskosten selbstständig zu finanzieren.
Interessierte werden gebeten, ein kurzes Proposal von 300-500 Wörtern für einen 20-minütigen Vortrag in deutscher oder englischer Sprache mit Angabe der institutionellen Anbindung und einem kurzen akademischen Lebenslauf bis zum 1. April 2014 an a.bothe@zentrum-juedische-studien.de zu senden. Die Auswahl der Vorträge erfolgt bis zum 1. Mai 2013.
--English version--
'Survivors' – Politics and Semantics of a Concept
The current understanding of the term ‘survivor’ in social and cultural studies includes various layers of meaning. In the German discourse ‘survivors’ are often understood as those who were persecuted as Jews by the National Socialists in the years 1939-1945 and survived the war in Germany and Nazi-occupied Europe. Those who were able to escape and survive in exile are classified as ‘refugees’ or ‘emigrants’. The University of Southern California Shoah Foundation applies a broader concept of the term ‘survivors’ which includes all Jewish interviewees regardless of the variety of their experiences. Both examples illustrate the impact of a collective attribution by others to the status of being a ‘survivor’. In addition to the already widely discussed categories of victims and witnesses the concept ‘survivor’ still needs further discussion.
Taking into account the multiple self-narratives of Shoah survivors opens new possibilities of understanding survival. The Jewish Displaced Persons in occupied post World War II Europe identified themselves initially as She'erit Hapletah, the ‘surviving remnant’ of European Jewry. Following this self-definition, all remaining European Jews belonged to this collective; a formulation that stressed unity after catastrophe and effaced the many differences in wartime experiences of survival. Those who survived the war as refugees or deportees in the Soviet Union also became part of the She’erit Hapletah when they were repatriated to their countries of origin, especially Poland, from where, finding only a “vast graveyard” and renewed antisemitism, many fled again. Even as they became the majority in the Jewish Displaced Persons Camps of occupied Europe, their specific experiences and memories were marginalized. Scholars have only recently begun to examine (and re-examine) the complex set of historical experiences and meanings attached to the the concept and definitions of ‘survivor’ and survival.
The workshop will focus on the different semantic and political meanings of the concept of ’survivor’ since World War II. It is necessary to critically analyze the different disciplinary, historical, and national understandings of the term. These questions are not new but need to be asked once again from a contemporary perspective. The political and social conditions that provide individuals a public forum for their memories will be considered as well. In many countries there has been a broadening of the concept of ‘survivor‘ over the decades, very often related to discussions about remembrance and restitution. What strategies and policies stand behind this change, and how does the semantic opening work in practice?
Possible topics for contributions include:
- juridical definitions of the term ’survivor‘ and the consequences
- other definitions of the term and their effectiveness
- Jewish and non-Jewish understandings of the ’survivor’
- reparations and compensation for survivors
- narratives of survival
- gaps and taboos in survivor's narratives and memories
- function and role of ’survivors‘ in national memorial cultures
- national and transnational conditions of the ’invention‘ of the ’survivor’
- survivors as historians, writers, politicians
- the impact of gender on semantics and politics of the concept
- how does media affect the memory of survival
- how do current political questions and anxieties shape debates about definitions of survivors?
Confirmed keynote speakers for the workshop are:
Dr Atina Grossmann (Cooper Union for the Advancement of Science and Art, New York, DAAD Walter Benjamin Visiting Professor)
Dr Stefanie Schüler-Springorum (Director of the Berlin Institute of Technology Center for Research on Antisemitism)
Dr Anne Rothe (Associate Professor of German, Wayne State University, Detroit)
The workshop will be held in German and English. Selected contributions will be published. Funding will be available only on a limited basis and by request. Please submit your proposal of 300-500 words for a paper of 20 minutes length together with your institutional affiliation and your academic CV by April 1, 2014 via e-mail to Alina Bothe: a.bothe@zentrum-juedische-studien.de. Participants will be notified by May 1, 2014.