Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt? Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland

Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt? Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland

Veranstalter
Dr. Bernhard Dietz (Universität Mainz); Dr. Jörg Neuheiser (Universität Tübingen)
Veranstaltungsort
Drusus-Saal der Zitadelle Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.03.2015 - 28.03.2015
Website
Von
Jörg Neuheiser

Schenkt man Medienberichten Glauben, verändern sich gerade die Einstellungen der Menschen in Deutschland zu Wirtschaft und Arbeit dramatisch: Die vielzierte „Generation Y“ fordere demnach Selbstverwirklichung, flache Hierarchien, Flexibilität, kollegiale Führungsstile sowie eine ausgeglichene „work-life-balance“. Aufstieg um jeden Preis, hohe Gehälter und Statussymbole wie Dienstwagen seien nicht mehr so wichtig wie früher. „Gerade bei Berufsanfängern und jungen Führungskräften hat eine Werteverschiebung eingesetzt, welche die vormals dominierende Akzeptanz- und Pflichtkultur zunehmend durch eine Kultur der Selbstverwirklichung ersetzt“, heißt es in den ULA Nachrichten, der Zeitschrift des Verbands der deutschen Führungskräfte im Juni 2013. Eine Studie belege, „dass gerade in der als Generation Y bezeichneten Arbeitnehmergeneration ein Wertewandel weg von materiell-monetären hin zu ideell-familiären Anreizen stattfindet.“

Das beschriebene Phänomen und die Begrifflichkeiten lassen aus Sicht des Zeithistorikers aufhorchen. Denn hier wird mit Wertewandel im Bereich der Arbeit ein Vorgang angesprochen, der klassischerweise mit dem sogenannten „Wertewandelsschub“ der späten 1960er und frühen 1970er Jahre in Verbindung gebracht wird. Zum anderen ist die Terminologie bemerkenswert, die sich stark an die zeitgenössische sozialwissenschaftliche Wertewandelsforschung von Helmut Klages anlehnt, der in den 1970er Jahren von einer Verschiebung von „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ zu „Selbstentfaltungswerten“ sprach. Die neuerliche Wahrnehmung eines gerade stattfindenden Wertewandels mit ähnlicher Stoßrichtung macht einerseits einen kritischen Blick auf die bisher von Historikern üblicherweise akzeptierten Ergebnisse der älteren sozialwissenschaftlichen Werteforschung notwendig, zum anderen fordert er die Frage nach Hintergründen, Mechanismen und öffentlichen Verhandlungen von Wertverschiebungen heraus.

Die Tagung in Mainz möchte dieser Frage mit Blick auf Wirtschaft und Arbeitswelt nachgehen und insbesondere die klassische „Wertewandelsphase“ (ca. 1965 bis 1975) und ihre Folgen bis zur Wiedervereinigung in den Mittelpunkt stellen. Bei der historischen Erforschung dieser Jahrzehnte gab es in den letzten Jahren einen starken Trend, ökonomischen und sozioökonomischen Faktoren eine große Bedeutung zuzusprechen. Dabei werden den 1970er und 1980er Jahren vor allem innerhalb des Strukturbruchparadigmas besondere Bedeutung für eine Problemgeschichte der Gegenwart beigemessen: in den Jahrzehnten „nach dem Boom“ (Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael) sind demnach die „Anfänge der Gegenwart“ (Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer) zu finden. Gleichzeitig interessiert sich auch die deutsche Unternehmens- und Industriegeschichte verstärkt für diese Zeit und fragt, inwiefern sich in den 1970er und 1980er Jahren ein „neuer Geist des Kapitalismus“ (Luc Boltanski/Ève Chiapello) durchgesetzt hat. Ziel der Tagung ist es, diese Stränge der Forschung zusammenzuführen und nach grundsätzlichen Veränderungen von ökonomischer Kultur und sozial-kulturellen Mentalitäten zu fragen: Wie haben sich vor dem Hintergrund gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels Arbeitsethos, Leistungsvorstellungen und Führungskonzepte seit dem vermeintlichen (ersten?) „Wertewandels-schub“ verändert? Zugleich: Welche Kontinuitäten lassen sich beobachten und wie muss ein Wandel beschrieben werden, der sich rund 40 Jahre nach der „stillen Revolution“ (Ronald Inglehart) erneut zu vollziehen scheint?

Hierbei soll die soziale Praxis in Wirtschaft und Arbeitswelt selbst, also das Feld der Betriebe, Unternehmen und Verwaltungen sowie die Perspektive der dort handelnden Akteure (Arbeitnehmer, Unternehmer und Führungskräfte) und ihrer Verbände berücksichtigt werden, zugleich aber auch die Ebene der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung reflektiert werden. Wer nahm wann, wie und warum fundamentale Veränderungen wahr und welche Folgen hatte die Wahrnehmung solcher Veränderungen für die beschriebenen Prozesse selbst? Welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang Wirtschaftsjournalismus und Managementliteratur auf der einen, wissenschaftliche Reflexion in Form von sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Analysen oder stärker praxisbezogenen Studien der „Arbeitswissenschaften“ auf der anderen Seite? Notwendig erscheint zudem eine transnationale Öffnung der Frage nach Veränderungen in der Bundesrepublik und dem (west-)deutschen Charakter des Wertewandels: Welche Rolle spielten nationale Entwicklungen und Traditionen bzw. spezifische Wahrnehmungen „deutscher“ Krisen und Probleme, und inwiefern muss der Wandel in der Bundesrepublik als Ergebnis transnationaler und globaler Verschiebungen bzw. als Folge der Einbindung Westdeutschlands in internationale Organisationen und Strukturen verstanden werden?

Programm

Tagungsprogramm

Donnerstag, 26. März 2015

14:30 Uhr Begrüßung und thematische Einführung:
Bernhard Dietz (Mainz), Jörg Neuheiser (Tübingen)

15:00 Uhr Sektion I: Arbeit und Arbeitsethos
Moderation: Jörg Neuheiser (Tübingen)

Peter-Paul Bänziger (Basel), »The Materialism is a very comfortable thing, one can't say yes or no at once.« Thematisierungen von Arbeit, Karriere und weiteren Lebenszielen in Tagebüchern und Briefen junger Angestellter, 1950er-1980er Jahre.

Jonathan Voges (Hannover), (Arbeits-)Ethos der Freizeit? Do it yourself und Heimwerken und der Wertewandel der Arbeit

17:00 Uhr Sektion II: Unternehmen und Unternehmer
Moderation: Kim Priemel (Berlin)

Friedericke Sattler (Frankfurt), 'Harvard' in Schloss Gracht: Das 'Universitätsseminar der Wirtschaft' (USW). Wertewandel durch Management-Schulung?

Markus Raasch (Mainz), Unternehmenskultur und soziale Praxis. Ein Beitrag zur Wertewandeldiskussion am Beispiel der Firma Bayer und ihrer Anliegerkommunen

Christian Marx (Trier), Vom nationalen Interesse zum shareholder value? Wertewandel in den Führungsetagen westdeutscher Großunternehmen in den 1970er und 1980er Jahren

Freitag, 27. März 2015

9:00 Uhr Sektion III: Neue Leitbilder des Kapitalismus
Moderation: Bernhard Dietz (Mainz)

Carola Westermeier (Gießen), Selbstentfaltung statt Sparen – Werber über Wertewandel in den Siebzigern

Sina Fabian (Potsdam), Der Yuppie – Verkörperung oder Gegenbeispiel des Wertewandels?

11:00 Uhr Sektion IV: Presse und Wertewandel
Moderation: Verena v. Wiczlinski (Mainz)

Maximilian Kutzner (Gießen), Vom Überfluss zum Müßiggang? Die Wertewandel-Debatte in der bundesdeutschen Presse zwischen 1950 und 1990

Bernhard Dietz (Mainz), Der „Wertewandel“ und die Veränderungen in der bundesdeutschen Wirtschaftspresse

12:30 Uhr Mittagspause

14:30 Uhr Sektion V: Alternative Ökonomie
Moderation: Simone Derix (Mainz/München)

Benjamin Möckel (Köln), Zwischen Aktivist und Arbeitnehmer: Selbstdarstellungen und visuelle Inszenierungen der Arbeit im „humanitären Feld“ in den 1960er bis 1980er Jahren

Jörg Neuheiser (Tübingen), Utopische „Schulen unternehmerischer Tugenden“? Arbeit, Leistung und Qualität als Problem des Alternativen Wirtschaftens in den 1970er und 1980er Jahren

16:45 Uhr Sektion VI: Wissenschaftliche Beobachtung und Beratung
Moderation: Morten Reitmayer (Trier)

Brigitta Bernet (Zürich), Das „Peter-Prinzip“. Der Umbau der Personallehren in den 1970er Jahren

Lukas Held (Zürich): Leistung zwischen Kritik und Lob: Die Leistungsdebatte der 1970er Jahre als Selbstverständigungsprozess am Ende der Hochmoderne

Samstag, 28. März 2015

9:00 Uhr Sektion V: Migration
Moderation: Andreas Rödder (Mainz)

Carina Großer-Kaya (Leipzig), Biographische Dimensionen des Wertewandels am Beispiel von Arbeitsorientierungen türkeistämmiger Männer in Deutschland

Sebastian Seng (Mainz), Ausbildung im Bergbau: Die Wahrnehmung japanischer Bergarbeiter (1957-1965) und junger türkischer Migranten (Ende der 1970er Jahre) im Vergleich.

11:00 Uhr Schlussdiskussion:
Moderation: Werner Plumpe (Frankfurt)

Kontakt

Jörg Neuheiser

Eberhard Karls Universität Tübingen, Seminar für Neuere Geschichte
Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen
070712978504
07071295874
joerg.neuheiser@uni-tuebingen.de