Reminder CfA: Semmeln aus Sägemehl. Lebensmittelskandale des 19. und 20. Jahrhunderts als Orte des Wissens

Reminder CfA: Semmeln aus Sägemehl. Lebensmittelskandale des 19. und 20. Jahrhunderts als Orte des Wissens

Veranstalter
Dr. Swen Steinberg / Prof. Dr. Frank Jacob
Veranstaltungsort
Ort
Dresden / Los Angeles / New York
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2015 -
Deadline
30.09.2015
Von
Swen Steinberg

Lebensmittelskandale sind, so legt es der regelmäßige Blick in „Tagesschau“ und Printmedien nahe, nach nur kurzen Unterbrechungen wiederkehrende Themen der Gegenwart – BSE und Gammelfleisch sind lediglich zwei von zahlreichen möglichen Beispielen der jüngeren Vergangenheit. Diese Wahrnehmung, die die Analyse dieser Skandale bislang vornehmlich der Domäne der Kommunikationswissenschaften zuwies, entspricht allerdings weder den empirischen Befunden, noch besitzt sie erklärenden Mehrwert für langfristige Prozesse. Schließlich sind diese Skandale in historischer Perspektive keineswegs ein Signum oder gar Produkt unserer Gegenwart: Lebensmittelskandale finden sich spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend überall auf der Welt; zudem wiesen sie in Ursache und Wirkung teils globale, zunehmend zumindest aber transnationale Zusammenhänge auf. Dieser langfristigen und breiten Perspektive folgend gehen die Herausgeber des Sammelbandes von der These aus, dass infolge von Bevölkerungswachstum und Massenkonsum sowie der Entwicklung neuer Formen der Informationsbeschaffung und -distribution spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts ein spezifischer öffentlicher Umgang mit der Skandalisierung von Lebensmittelthemen entstand, der zudem von einer gesteigerten Problematisierung durch gesellschaftliche Strömungen (bspw. Lebensreform), staatliches Handeln (bspw. Normierung, Lebensmittelüberwachung) und wissenschaftliche Auseinandersetzung (bspw. Hygiene) flankiert wurde. Der im Untertitel gewählte Terminus der „Orte des Wissens“ ist dabei keineswegs zufällig, zeichneten sich diese Skandale doch zumeist durch zwei grundlegende Konstanten aus: Einerseits zeugten sie als Ereignisse, die überhaupt eine Skandalisierung ermöglichten, von spezifischem Wissen über die zumeist gesundheitliche Dimensionen des Nahrungsmittelkonsums. Dabei konnten diese „Orte“ auch sozial determiniert, also vom Wissenszugang (bzw. vom Nicht-Wissen) abhängig sein. Andererseits nimmt die begriffliche Nähe zu den „lieu de mémoire“ Pierre Noras die langfristige Perspektive in den Blick, war doch die mit den Skandalen verbundene ‚Stigmatisierung‘ von Verursachern oder Produkten keineswegs etwa mit der öffentlichen Richtigstellung von falschen Behauptungen oder der Änderung von Herstellungspraxen ‚bereinigt‘. Letzteres verweist auf den engen Zusammenhang von Konsumenten-Wissen, Informationspolitiken und Öffentlichkeit, der dem Thema innewohnt.
Die hiermit angefragten Abstracts richten sich dem folgend an verschiedene Felder der Geschichtswissenschaft und verwandter Disziplinen. Konkret können erstens Einzelfälle oder Themenkomplexe in den Blick genommen werden, die die Gemengelage von Lebensmittelskandalen aufzeigen – die beteiligten Akteure und ihr Wissen, die Hintergründe des Skandals sowie den Verlauf der Skandalisierung selbst. Zentral erscheint dabei die Frage, inwieweit sich Muster – etwa der Reaktion auf öffentliche Vorwürfe seitens der betroffenen Produzenten oder Händler – ausmachen lassen und welche Akteure bzw. Akteursgruppen im Kontext der Skandalisierung ‚in Aktion‘ treten? Zweitens können Themen der Funktionalisierung in den Blick genommen werden, verbargen sich doch hinter ‚Lebensmittelskandalen‘ etwa um Sägemehl in Backwaren gelegentlich antisemitische Vorurteile; der Behauptung, zur Herstellung von DDR-Schokolade werde Rinder- oder Schweineblut verwendet, wohnte zudem Systemkritik von innen wie außen inne, wie sie sich gleichfalls im Kontext der Surrogat-Erschließung im Ersten und Zweiten Weltkrieg ausmachen lässt. Der Lebensmittelskandal konnte folglich auch ein nicht zuletzt emotionalisiertes Mittel zu einem ganz anderen Zweck darstellen – und folglich ein ‚Ort anderen Wissens‘ sein. Drittens schließlich können Fragen einer ‚Ethik des Konsumierens‘ in historischer Perspektive untersucht werden, die sich etwa in der Skandalisierung von Sklavenarbeit bei britischen Schokoladenherstellern am Ende des 19. Jahrhunderts ausmachen lassen, ebenso aber in der gezielten Propagierung von entgegengesetztem Enthaltungsverhalten (bspw. Vegetarismus, Tierschutz) oder der bewussten Institutionalisierung zur Qualitätssicherung (bspw. Konsumvereine) ihre Entsprechung fanden. Dieser Breite folgend soll das Thema Lebensmittelskandale deswegen unter Einbeziehung jüngerer Ansätze der Geistes- und Sozialwissenschaften behandelt werden: neben wissensgeschichtlichen Perspektiven gilt dies beispielsweise auch für emotionshistorische Zugänge oder solche der kritischen Unternehmens- und Marketinggeschichte.
Wir bitten interessierte Historikerinnen und Historiker – ebenso aber auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verwandter Fachrichtungen – um Vorschläge, die in Form eines kurzen Abstracts (max. 350 Wörter incl. Kurzvita) bis zum 30. September 2015 einzureichen sind (Swen.Steinberg@tu-dresden.de/FJacob@qcc.cuny.edu). Die Abgabe der angenommenen Aufsätze (15-20 Seiten, TNR 12, Zeilenabstand 1,5) sollte dann bis zum 31. März 2016 erfolgen. Die ausgewählten Beiträge erscheinen in der beim Nomos Verlag herausgegebenen Reihe „Wissen über Waren – Historische Studien zu Nahrungs- und Genussmitteln“, als Erscheinungstermin ist der Herbst 2016 vorgesehen.

Programm

Kontakt

Swen Steinberg / Frank Jacob

TU Dresden, Philosophische Fakultät, Institut für Geschichte, Lehrstuhl für Sächsische
Landesgeschichte, 01062 Dresden / History Department CUNY (QCC), 22205 56th Ave, New York, 11364

Swen.Steinberg@tu-dresden.de / FJacob@qcc.cuny.edu

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