Unter der Linde und vor dem Kaiser.
Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften
im Heiligen Römischen Reich
Das Heilige Römische Reich war von einer Vielzahl von Gerichten unterschiedlicher Herrschaftsträger und sozialer Gruppen geprägt. Infolgedessen existierten kaum deutlich voneinander abgegrenzte und daher unklare Gerichtszuständigkeiten.
Wenngleich infolge der Rezeption des Römischen Rechts die Rechtsprechung im Laufe der Frühen Neuzeit zunehmend professionalisiert wurde, änderte sich an der Vielzahl der Gerichte nur wenig. Im Gegenteil – während letztere mit dem Einzug der gelehrten Juristen einen Innovationsschub verzeichnen konnten, entstanden aufgrund der Ausbildung von herrschaftsbezogenen Instanzenzügen in den verschiedenen Territorien sowie durch Universitätsneugründungen zusätzlich neue Spruchkörper. Die Vielzahl war dabei nicht nur unermesslich, sie bestand zudem über Jahrhunderte hin fort – und dies, obwohl sich innerhalb der Territorien bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts tendenziell eine zentrale herrschaftliche Gewalt ausgebildet hatte. Diese wiederum resultierte in nicht unerheblichem Maß aus der Gerichtsgewalt als „Inbegriff aller Herrschaftsrechte“ (Stollberg-Rilinger).
In der Forschung wurde die bestehende Gerichtsvielzahl mit dem „Begriff Gerichtslandschaft als Arbeitsinstrument“ konzeptualisiert. Zu erinnern ist an die zu diesem Thema 2005 veranstaltete Tagungsreihe des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit (Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hgg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 52), Köln/Weimar/Wien 2007; Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich (Hgg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich (bibliothek altes Reich, Bd. 3), München 2008). Gerichtslandschaft steht als „Synonym für Vielfalt“ und die „Gleichzeitigkeit von Einheit und Verschiedenheit“. Der Begriff diente dazu, „die Vielfalt als eine für die Rechts- und Gerichtsverfassung der Frühen Neuzeit charakteristische Eigenschaft“ zu betonen.
Diese Überlegungen aufgreifend soll im Rahmen des wissenschaftlichen Kolloquiums, das zugleich die 15. Nachwuchstagung des Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit darstellt, der Begriff der Gerichtslandschaft in einem größeren Kontext verortet und zur Diskussion gestellt werden.
Ein zentrales Anliegen der Tagung ist es, Vergleichsperspektiven zu eröffnen, wie dies bereits 2005 gefordert wurde. Dabei stehen – auch vor dem Hintergrund der großen Zuständigkeitsschienen weltliche und geistliche Gerichtsbarkeit betrachtet – zwei Schwerpunkte im Vordergrund:
Schwerpunkt 1 – Gerichtsvielfalt im Spiegel einzelner Personengruppen
Angestrebt ist es, besondere Personengruppen in den Fokus zu nehmen, die Zugang zu einer eigenen Gerichtsbarkeit hatten, etwa Juden, der Klerus, Kaufleute, Handwerker oder Angehörige des Militärs, des Adels, der Zünfte oder der Universitäten. Dabei sollen Spruchkörper wie ordentliche Gerichte oder Schöppenstühle und andere Schlichtungsinstanzen in den Blick genommen werden, die im Speziellen für diese Personengruppen zuständig waren.
Schwerpunkt 2 – der Zugriff über die Hoheitsträger und Territorien
Zudem sollen Aspekte der Gerichtsbarkeit und Gerichtsvielfalt unter bestimmten Hoheitsträgern oder in bestimmten Territorien oder Regionen des Alten Reichs im Mittelpunkt stehen. Hierbei dürften regionale Machtstrukturen ebenso eine Rolle spielen wie Friktionen innerhalb eines Territoriums, die das Wechselspiel zwischen Landesherr und Ständen maßgeblich beeinflussten und damit Auswirkungen auf die territoriale Gerichtsverfassung sowie die personelle Zusammensetzung der Gerichte hatten.
Schwerpunktübergreifend wird es wichtig sein, folgende Fragen zu berücksichtigen, um eine vergleichende Perspektive zu ermöglichen.
- Was beeinflusste die Entwicklung der Gerichtsvielfalt?
- Welche Spruchkörper und Schlichtungsinstanzen gab es?
- Inwieweit erfolgte eine Institutionalisierung der Gerichtsbarkeit und wie verhielten sich hierzu althergebrachte Schlichtungsinstanzen? Welche Rolle spielten die gelehrten Juristen in diesem Prozess?
- Welche Institutionen waren an der Rechtsprechung neben den eigentlichen Gerichten beteiligt (Oberhöfe und Schöppenstühle, Juristenfakultäten oder der Landesherr selbst)?
- Welche Zäsuren ergaben sich etwa durch Appellationsprivilegien, Herrscherwechsel, Erbteilungen oder Kriege in den jeweiligen Territorien?
- Wie war der Instanzenzug ausgestaltet?
- Wie ist das Verhältnis von Justiz-Kanzleien und Hofgerichten methodisch zu greifen?
- Wo, das heißt an welchen Gerichtsorten und in welchen Gerichtsgebäuden wurde Recht gesprochen?
- Wer hatte Zugang zu den Gerichten?
- Wie entwickelten sich klar abgrenzbare Zuständigkeiten?
- Welche Verfahrensgrundsätze und Gerichtsordnungen gab es und wie verlief das Verfahren tatsächlich?
- Welche Verfahrensformen können, etwa mit Blick auf die ordentliche Gerichtsbarkeit im Verhältnis zur Schiedsgerichtsbarkeit, als Bestandteil der „Justiz“ aufgefasst werden?
- Inwieweit waren Gerichtsbarkeit und Verfahren durch normative Rechtsquellen geprägt?
Nicht zuletzt sind Beiträge zu methodischen Aspekten und zur zeitlichen Dimension des Tagungsthemas willkommen.
Das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit versteht sich als Plattform für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden daher ausdrücklich aufgefordert, einen Tagungsbeitrag einzureichen.
Wir bitten um Vorschläge in Form eines Abstracts (max. 2.000 Zeichen, deutsch- oder englischsprachig) und um Übermittlung eines kurzen CV bis zum 31. Januar 2016. Die Vortragszeit beträgt 25 Minuten. Eine Publikation der Beiträge ist vorgesehen. Die Konferenz wird in Wetzlar stattfinden. Die Übernahme von Reise- und Übernachtungskosten wird angestrebt.