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Call for Papers
Archiv für Sozialgeschichte 57, 2017: Gesellschaftswandel und Modernisierung 1800–2000
Es fällt schwer, die großen Unterschiede zwischen den Gesellschaften im Jahr 2000 und um 1800 zu ignorieren. Es gibt viele Perspektiven von denen aus man diese Unterschiede beschreiben kann. In ökonomischer Hinsicht sieht man eine Transformation von einer vornehmlich agrarischen zu einer industriellen Produktionsweise, die seit etwa 1970 teilweise durch post-industrielle Erwerbsformen einer Wissensökonomie abgelöst worden sind. Die dominante Form von Institution um 1800 waren multifunktionale Körperschaften wie die Gilden, Zünfte, privilegierte Landbesitzer und Kirchen sowie machtvolle Monarchien. Solche Korporationen, die den Einsatz von Arbeit und Kapital regulierten, Gerichte einschlossen, in der Erziehung tätig waren und andere Funktionen erfüllten, sind durch Vereine und formale Organisationen ersetzt worden, die als Unternehmen, Gewerkschaften oder Schulen speziellen Zwecken nachgehen. In der Politik sind ständisch privilegierte Körperschaften wie königliche Höfe und Gutsherrschaften und städtische Räte durch inklusive, horizontal integrierte politische Institutionen wie gewählte Parlamente und fachlich vorgebildete Verwaltungen ersetzt worden. Die wichtigste Basis politischen Handelns ist nach 1800 der Nationalstaat. Generell haben sich die Muster sozialer Differenzierung in Richtung größerer Komplexität (etwa in der Zahl unterschiedlicher Berufe) und weiterer funktionaler Differenzierung entwickelt, in großem Unterschied zu den Differenzierungsmustern einer durch Korporationen geprägten Gesellschaftsform. Zugleich herrscht das Verständnis vor, dass nationale Gesellschaften durch Elemente einer gemeinsamen Kultur geprägt sind, und in zwar in einer Weise, die in einer durch Privilegien geprägten Gesellschaft nicht möglich war.
Die Sozialgeschichte hat von den 1960er- bis zu den 1980er-Jahren große Fortschritte im Verständnis wichtiger Elemente dieses Wandels gemacht, oft im Dialog oder der Zusammenarbeit mit Soziologen und Politikwissenschaftlern. Dabei gab es nur wenige Historiker, die ganz explizit von einer Sozialgeschichte einzelner Gruppen oder Klassen oder spezifischer sozialer Felder wie dem sozialen Konflikt zu einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte vordringen wollten, welche die Verbindungen zwischen sozialen Handlungsfeldern analysiert und diese im Zusammenhang sieht. Wichtig in diesem Zusammenhang waren die Bücher von Eric Hobsbawm und Hans-Ulrich Wehler. Seit den 1990er-Jahren wurden diese Versuche durch den Boom der Kulturgeschichte überholt. Viele Protagonisten der Kulturgeschichte sehen die Analyse sozialen Wandels als nutzlos oder gar unmöglich an, entweder weil dieses Vorhaben ihrer Meinung nach separate Phänomene in eine begriffliche Zwangsjacke presse oder weil es auf der Illusion basiere, dass es so etwas wie eine „Gesellschaft“ gibt, die Historiker analysieren könnten.
Ein wichtiger Kontext für diese historiografische Tendenz ist, dass die Modernisierungstheorie – die sowohl nicht marxistische Versuche einer Gesellschaftsgeschichte als auch marxistische Interpretationen der Modernisierung bestimmte – aus der Mode gekommen ist. „Modernisierung“ wird oft mit Vorstellungen wie dem „Aufstieg des Westens“ oder dem optimistischen Glauben daran assoziiert, dass der in den Gesellschaften des Westens verkörperte „Fortschritt“ im Rest der Welt praktisch werden könne. Nach der Ernüchterung durch das massenhafte Sterben im „Dreißigjährigen Krieg“ von 1914 bis 1945 erhielten solche Vorstellungen neue Attraktivität mit dem globalen Wettbewerb zwischen der USA und der UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg. Theorien der Modernisierung – im Unterschied zu speziellen Deutungen der Liberalisierung, Demokratisierung oder Industrialisierung – wurden in den USA als eine Gegenfolie zum sowjetischen Modell entwickelt, das den Einparteienstaat und die Kommandowirtschaft als den einzigen Weg sah, um die „Dritte Welt“ aus der Rückständigkeit herauszubringen. Diese konkurrierenden Modelle haben ihre Spuren in der Arbeit der Historiker hinterlassen.
Die Fehler beider Modernisierungsprojekte waren in den 1970er-Jahren deutlich sichtbar, und bald darauf auch die Defizite der Modernisierungstheorie. Verschiedene Stränge der Kritik wurden entwickelt. Noch relativ begrenzt war das Modell der „multiple modernities“, das an der Perspektive der Modernisierung festhielt, aber eine größere Zahl von Wegen postulierte, auf dem sie erreicht werden konnte. Sodann wurde der kulturelle Pessimismus, der die Moderne stets begleitet hat, verbreiteter und heftiger. Schließlich gab es eine Kritik, die über eine Problematisierung der moralischen Wertladung der Moderne oder ihrer möglichen globalen Diffusion hinausging. Hier wurde einfach verneint, dass es einen Prozess der Modernisierung gibt.
Diese sehr grob skizzierten Positionen zu Modernisierung und Modernität haben Einfluss auf die Sozialwissenschaften und die Philosophie gehabt. Die Geschichtswissenschaft, oft mit der Partikularität des Vergangenen befasst, war weniger offensichtlich betroffen. Aber jede historische Forschung, die mehr als antiquarisch sein will, arbeitet mit Annahmen, die in Begriffen und Theorien begründet sind, die es dem Historiker erst möglich machen, Fragen zu stellen, Evidenzen auszuwählen und zu organisieren und Darstellungen zu verfassen. Die Diskreditierung der Modernisierungstheorie hat die Historiker einer wichtigen Spannbreite von Konzepten beraubt, mit denen sich sozialer Wandel verstehen lässt. Es ist deshalb angezeigt, eine Diskussion darüber zu führen, welche dieser Konzepte sich sinnvoll in die Praxis der Geschichtsschreibung zur Zeit ab 1800 wieder einfügen lassen, und wie das Konzept der Gesellschaftsgeschichte in einem Dialog zwischen Befürwortern und Kritikern der Modernisierungstheorie fortentwickelt werden kann.
Der geplante Themenband des Archivs für Sozialgeschichte wird der Frage nachgehen, wie die weitgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen seit 1800 in historischer Perspektive begriffen werden können, und zwar als eine Abfolge distinkter, analytisch und empirisch nachvollziehbarer Prozesse und damit ohne den normativen Ballast von Vorstellungen wie der eines „Fortschritts“. Für den AfS-Band sind vier Themenfelder vorgesehen:
1. Das erste Thema ist die Idee eines „Zeitalters der Territorialität“ (Charles S. Maier). Von etwa 1880 bis 1980 versuchten Nationalstaaten mit beträchtlichem Erfolg, verschiedene soziale Prozesse innerhalb der Grenzen ihres Territoriums zu reorganisieren und zu bündeln. Staatliche Bürokratien versuchten, die Lebensverhältnisse all jener, die auf ihrem Territorium lebten, zu durchdringen und zu regulieren. Im Rahmen dieses Themas untersuchen wir, wie Staatsintervention soziale Prozesse beeinflusste.
2. Die Vorstellung einer „Gesamtgesellschaft“ mit einer distinktiven Kultur auf dem Territorium eines Nationalstaats ist der Stützpfeiler der Ideologie des Nationalismus, ob im Rahmen eines existierenden Staats oder mit dem Ziel, die Grenzen bestehender Staaten im nationalen Sinne zu verändern. Im Rahmen dieses Themenfelds fragen wir danach, wie weit der Nationalismus – als Ideologie, Politik und Rahmen kollektiver Identität – ein zentrales Element der Modernisierung ist.
3. Das dritte Thema des Bandes ist die Formveränderung der Gesellschaft unter dem Einfluss funktionaler Differenzierung. Funktionale Differenzierung führte zur Auflösung der multifunktionalen Institutionen, welche die frühneuzeitliche Gesellschaft auszeichneten. Das Vordringen funktionaler Differenzierung führte aber auch zu neuen intersystemischen Beziehungen zwischen Teilfeldern der Gesellschaft, wie etwa in der engen Koppelung von Politik und Massenmedien, die sich ab 1880 deutlich abzeichnete. Beiträge zu diesem Thema untersuchen die Dynamik und die unintendierten Nebenfolgen funktionaler Differenzierung in bestimmten Feldern der Gesellschaft. Sie fragen auch danach, ob und wie der Prozess funktionaler Differenzierung durch staatliche Intervention blockiert oder gar revidiert wurde.
4. Im vierten Themenfeld fragen wir danach, in welcher Weise Modernisierung zugleich Erklärungen und Beschreibungen des sozialen Wandels anbietet. Ist sie das Werk von Modernisierern, die sich gegen Widerstände traditionaler Eliten oder Klassen durchsetzen? Oder lässt sich Modernisierung besser als das Ergebnis unintendierter Interaktionen und Prozesse verstehen? Gibt es systemische Gründe dafür, warum sich im Ergebnis so etwas wie „Modernisierung“ ergibt? Es versteht sich von selbst, dass der Fokus hier auf dem Prozess oder dem Projekt der Modernisierung liegt, und nicht auf dem Erreichen eines idealiter vorgestellten Endzustands namens „Modernität“.
Im Rahmen dieser vier Themen laden wir zur Einreichung von Vorschlägen für Aufsätze mit unterschiedlicher Anlage und Reichweite ein:
1. Konzeptionelle Aufsätze, die bestimmte Aspekte der Konzeption von Gesellschaftsgeschichte und Modernisierung in der Anwendung auf historische Phänomene diskutieren. Dies kann eine Kritik der Modernisierungstheorie und ihrer Vorstellung der Verbindung zwischen Feldern des sozialen Wandels einschließen.
2. Fallstudien, die sozialen Wandel und Modernisierung im Rahmen bestimmter sozialer Felder wie Erziehung, Wirtschaft oder Religion diskutieren und dabei sowohl die Dynamik funktionaler Spezifizierung als auch Verbindungen zu anderen sozialen Feldern in der Gesellschaft untersuchen.
3. Fallstudien, die relevante Aspekte der Modernisierung in einem bestimmten Land oder eine Ländergruppe über politische Zäsuren hinweg analysieren. In diesem Rahmen können auch alternative oder multiple Pfade der Modernisierung als Thema angesprochen werden. Hier kann und sollte auch die Idee der Pfadabhängigkeit einfließen, also die Prägung von Entwicklungspfaden durch Weichenstellungen in bestimmten kritischen Augenblicken.
Am 27./28. Oktober 2016 wird ein Autoren-Workshop zur Vorbereitung des AfS-Bandes bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn stattfinden. Mögliche Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch. Vorschläge können bis zum 1. April 2016 eingereicht werden. Die Exposés sollten 3.000 Zeichen nicht überschreiten.
Die Redaktion des Archivs für Sozialgeschichte besteht aus Beatrix Bouvier, Anja Kruke, Friedrich Lenger, Ute Planert, Dietmar Süß, Meik Woyke (Schriftleitung) und Benjamin Ziemann. An der Redaktion des AfS-Bandes 57 wird John Breuilly als Gast mitwirken.
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Call for Papers
Archiv für Sozialgeschichte 57, 2017. Societal Change and Modernisation, 1800–2000
It is hard to ignore the great differences in societies in 2000 and in 1800. There are many ways of describing these differences. Economically, we can see a transformation from a predominantly agrarian to an industrial mode of production that has since the 1970s partly given way to post-industrial, knowledge based type of enterprise. In the late eighteenth century, the dominant type of institution were multi-functional bodies such as guilds, privileged landowners and churches, and powerful monarchies. Such corporations which regulated labour and capital, ran courts, educated young people and did many other things, have given way to voluntary associations and formal, specialised organisations such as business firms, trades unions and schools. In politics, stratified bodies of decision-making such as royal and manorial courts and privileged town councils have been mostly replaced by inclusive and horizontally integrated political institutions (elected parliaments, salaried civil servants) that are organised in nation-states. More generally, patterns of social differentiation have evolved to promote complexity (such as in the range of distinct occupations) and differentiation (such as between private and public spheres), quite unlike the complexity and differentiation of a society of corporate orders. At the same time, there is a sense that national societies share elements of a common culture in a way that was not true of societies differentiated by privilege.
From the 1960s to the 1980s, social historians made great advances in understanding crucial elements of these processes of change, often in dialogue or even collaboration with sociologists and political scientists. Yet there were only a few historians who sought explicitly to move from a social history of groups such as classes or of specific social fields such as political conflict to a societal history that tried to analyse the interconnections between different groups and forms of social action and to see these in conjunction. Most notable were books by Eric Hobsbawm and Hans-Ulrich Wehler. Since the 1990s, these attempts have been largely bypassed by the boom in cultural history, many of whose proponents consider the analysis of social change as futile or simply impossible, either because it presses disparate phenomena into conceptual straitjackets or because it is based on the illusion that there is such a thing as a “society” which can be known to historians.
An important backdrop to these historiographical developments is that modernisation theory – which had underpinned non-marxist attempts at a societal history, as well as marxist interpretations of modernisation – have fallen out of fashion. “Modernisation” has come to be associated with such notions as the “rise of the West”, the confident belief that “progress” as exemplified in western societies, could be extended to the rest of the world. Though considerably dented by the mass slaughter of the twentieth century “30 Years War”, such confidence got a second wind with the global evangelism of the USA and the USSR after 1945. Theories of modernisation – in contrast to those which focused on liberalisation, democratisation or industrialisation – were elaborated in the USA as a deliberate riposte to the Soviet model which prescribed the one-party state and the command economy as the only way to wrench the “Third World” out of backwardness and poverty. These competing models left their mark on the work of modern historians.
The defects of both modernisation projects were manifest by the 1970s, and the limits of modernisation theory shortly afterwards. Various critiques were developed. The most limited was that of “multiple paths” to modernity which sought to preserve modernisation perspectives but to complicate the directions this could take. Second, the cultural pessimism which has always accompanied modernity became more widespread and vehement. Finally there were arguments which went beyond contesting the moral value of modernity or whether it could be diffused globally in one or many forms. They simply denied that there was any such process or condition as modernisation.
These broad positions on modernisation and modernity have had a major impact in the social sciences and philosophy. History, a discipline which often focuses on the particularity of past events, has been less obviously affected. Yet any historical work which is more than antiquarian in its significance works with assumptions which are rooted in concepts and theories which enable historians to ask questions, select and organise evidence and compose accounts. The discrediting of theories of modernisation has deprived historians of an important range of concepts by which to understand societal change. It is therefore worth inquiring into the merits of reintroducing some of these ideas into the practices of historians, and to develop the notion of a societal history further in a dialogue between proponents and critics of modernisation theory.
It is the aim of this themed issue of the Archiv für Sozialgeschichte to explore how the sweeping societal transformations of the nineteenth and twentieth centuries can be conceptualised in a historical perspective, i.e. as a series of distinctive processes, understood as analytic and empirical but stripped of such normative connotations as the idea of “progress”.
In this issue we propose considering four themes:
1. The first theme is the notion of an “age of territoriality” (Charles S. Maier). From the 1880s to the 1980s, nation-states tried with considerable success to reorganise and coordinate different social processes within the parameters and boundaries of their territory. Thus, state bureaucracies sought to penetrate and regulate the affairs of all those living within the sharply delimited space of the nation-state. In the context of this theme, we investigate how state intervention affected social change.
2. That same notion of a “whole society” with a distinct culture inhabiting the territory of the nation-state underpins the political ideology of nationalism, whether confined to the existing territorial state or seeking to alter the boundaries of states to conform to the ideal national territory. In the context of this theme, we investigate how far nationalism – as ideology, politics and sense of identity – is a central component of modernisation.
3. The third theme is the reconfiguration of society under the impact of functional differentiation. Functional differentiation led to the dissolution of many of the multifunctional institutions that had characterised early modern society. Yet at the same time, differentiated subsystems also established new forms of inter-system relationships, such as the close connection between politics and the mass media that evolved from the late nineteenth century onwards. Contributions to this theme chart the dynamics and unintended side-effects of functional differentiation in certain areas or fields of society. They also ask how and to what effect the process of differentiation can be reversed through political intervention and state control of certain societal fields.
4. The fourth theme is how modernisation theory can provide explanations as well as descriptions of societal change in the modern period. Is modernisation the work of modernisers who succeed in overcoming the obstacles placed in their path by opposing elites and classes? Or is it best understood as the outcome of various unintended interactions? In either case, are there systemic reasons why the outcome is some process of modernisation? It should be clear that the focus here is on understanding the process or project of modernisation and not on the achievement of some end-state called modernity.
Within the framework of these themes, we invite papers of different scope and type of case study:
1. Conceptual papers that discuss specific aspects of the notion of societal history and modernisation in their application to historical phenomena. This can also include a critique of modernisation and its assumption of the interconnectedness of different fields of social change.
2. Case studies that discuss societal change at the level of specific fields (for instance education, religion, the economy) and analyse both the dynamics of differentiation and specialisation within the field as well as its interconnectedness with other arenas in society.
3. Case studies that chart relevant aspects of societal change and modernisation in a specific country or group of countries across political caesuras. This set of papers can include the discussion of alternative or multiple paths to a modern society, and should also reflect on the notion of a path-dependency, i.e. how structural parameters that are in place at specific junctions shape the trajectory of societal development.
Abstracts and articles can be submitted in English and German. Abstracts should not be longer than 3,000 characters including any references. The deadline for the submission of abstracts is 1 April 2016. A workshop with short papers by invited authors will take place at the FES in Bonn on 27/28 October 2016.
The editors of the Archiv für Sozialgeschichte are Beatrix Bouvier, Anja Kruke, Friedrich Lenger, Ute Planert, Dietmar Süß, Meik Woyke (managing editor) and Benjamin Ziemann. In addition, John Breuilly will act as a guest-editor for the 2017 theme issue.