Die Tagung wird die Diskurstheorie nach dem Marxismus anhand von vier Forschungsfragen in den Blick nehmen:
1. Diskurstheorie und die Erneuerung marxistischer Frage- und Problemkontexte
2. Emanzipation oder Kritik? Zum normativen Fluchtpunkt diskurstheoretischer und
marxistischer Forschung
3. Gesellschaftstheorie und Diskurstheorie
4. Materialismus als Diskurs – Diskurs als Materialismus?
1. Diskurstheorie und die Erneuerung marxistischer Frage- und Problemkontexte
Das sozialwissenschaftliche Selbstverständnis des Marxismus kreist ebenso wie das der Diskurstheorie um die Begriffe Macht, Hegemonie und Herrschaft. Nach dem „Ende des Marxismus als autonomer Theorie“ (Honneth) hat sich die diskurstheoretische Forschung als
außerordentlich produktives Analyseinstrument gesellschaftlicher Machtverhältnisse erwiesen. In diesem Sinne greift die Diskurstheorie wichtige Frage- und Problemkontexte aus der Erbmasse des Marxismus auf, um diese auf innovative methodologische Weise in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung in neue Fragebereiche zu übersetzen. Hier sind sowohl konzeptionelle Beiträge zur macht-, hegemonie-, herrschafts- und ideologiekritischen Diskurstheorie gefragt als auch konkrete diskursanalytische Forschungsarbeiten zu diesen Themen.
2. Emanzipation oder Kritik? Zum normativen Fluchtpunkt diskurstheoretischer und marxistischer Forschung
Eine der wichtigen Differenzen zwischen der marxistischen Theorie und der Diskurstheorie betrifft die normative Funktion der Wahrheit. Während im Marxismus die Wahrheit stets im Dienst der Emanzipation gedeutet wird, steht sie in vielen Diskurstheorien unter einem allgemeinen Machtverdacht. Hiermit verschiebt sich der normative Forschungsrahmen erheblich. Polemisch stoßen hier ein Subjekt im Sinne eines rationalistischen Emanzipationsideals und eine nihilistische als Machtkritik artikulierte Theorie der Subjektivierung aufeinander. Zu fragen wäre, wie sich am Marxismus orientierte Theorien der Emanzipation diskursanalytisch neu fassen lassen. Aber auch diskurstheoretisch informierte Kritiken am historischen Materialismus sollen hier diskutiert werden.
3. Gesellschaftstheorie oder Diskurstheorie
Seit dem Beginn der Debatten zwischen Marxismus und Diskurstheorie findet sich der Begriff Gesellschaft im Zentrum der gegenseitigen kritischen Interventionen. Im diskursanalytischen Rahmen kommt die Gesellschaft nicht vor, stattdessen haben sich das Soziale oder die Kultur zu Grundbegriffen der diskurstheoretischen Sozialwissenschaften entwickelt. Auf der anderen Seite ist bis heute eine marxistische Sozialwissenschaft ohne genuine Gesellschaftstheorie im Sinne einer „dialektischen Totalität“ (Jameson über Adorno) nur schwer vorstellbar. Die im Geiste der Diskurstheorie vorgenommene Dekonstruktion der Gesellschaftstheorie ist ohne Zweifel eine der wirkmächtigsten sozialwissenschaftlichen Transformationen im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, heute zeichnet sich dagegen eine neue Produktivität gesellschaftstheoretischer Interventionen in die Diskurstheorie ab. Im Raum zwischen marxistischer Gesellschaftstheorie und diskurstheoretischer Forschung etablieren sich zunehmend spannende Versuche einer postfundamentalen Gesellschaftstheorie.
4. Materialismus als Diskurs – Diskurs als Materialismus
Auch das Verhältnis von Materialismus und Diskurs spielt seit jeher in der marxistischen Diskurstheorie eine prominente Rolle. Hier ist interessant, dass in den zeitgenössischen Debatten die Rückkehr des Materiellen in die Diskurstheorie aus völlig anderen Forschungsbereichen gefordert wird. Besonders nachdrücklich hat in der jüngeren Vergangenheit hier die Wissenschaftsforschung die Blindheit der Diskurstheorie für die Dingwelt oder die Natur moniert. An dieser Stelle nimmt ausgerechnet die ANT von Bruno Latour eine herausgehobene Stellung in den gegenwärtigen Theoriedebatten ein. Welchen Nutzen eine marxistische Diskurstheorie aus dieser heute viel diskutierten Rückkehr des Nichtdiskursiven in den Diskurs ziehen kann, ist aber noch relativ wenig erforscht. Hier wäre zu fragen, ob eine kritische Diskurstheorie Anschluss an die gegenwärtigen Debatten in der Wissenschaftsforschung finden kann bzw. welche Rezeptionsblockaden einer solchen Annäherung im Wege stehen.