Der Vorstand der Gesellschaft für Geschichte der Wissenschaften, der Medizin und der Technik (GWMT) lädt ein zu Vortrags- und Sektionsanmeldungen für die erste Jahrestagung der Gesellschaft in Münster vom 22.-24. September 2017 mit dem Rahmenthema
Wissenschafts-, Medizin- und Technikreflexion auf dem Prüfstand:
Historische und aktuelle Herausforderungen
Kritische und programmatische Reflexionen auf Wissenschaft, Medizin und Technik haben sich in der Vergangenheit auf historische Entwürfe dieser Bereiche berufen. Solche Verbindungen sind in der Gegenwart noch stärker virulent geworden. Für die Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte stellt sich gerade heute die Herausforderung, ihr eigenes Selbstverständnis und ihre Perspektiven zwischen historischer Disziplin, kritischer Reflexion und (wissenschafts-)politischer Vereinnahmung in den Blick zu nehmen. Die erste Jahrestagung der GWMT, die zugleich die 100. Jahrestagung der DGGMNT und die 54. Tagung der GWG darstellt (womit die GWMT in eine einhundertjährige Tradition eintritt), gibt Anlass, solche Fragen zu diskutieren und ihre historische Tiefe und Varietät auszuloten. Zur Diskussion stehen also die Geschichte der Verbindung von historischen und systematischen Reflexionen zu Wissenschaft, Medizin und Technik, aber auch Blicke auf die gegenwärtige Situation unserer Forschungsfelder in den inhaltlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontexten des 21. Jahrhunderts. Mit der Tendenz zur interdisziplinären Öffnung naturwissenschaftlich-technischer Disziplinen in Lehre und Forschung stellt sich zudem die Frage nach Allianzen der historischen mit der aktuellen Wissenschafts-, Medizin- und Technikreflexion.
Ob Platon sich über das experimentelle Verfahren der Pythagoräer beschwert, ob der Humanist Paul Schneevogel Kritik am Bergbau als einer Schändung der Erde übte oder ob im 19. und 20. Jahrhundert zwangsweise Impfungen und Tierexperimente angezweifelt worden sind: Kritik an Wissenschaft, Medizin und Technik, oder zumindest spezifischen Ausprägungen derselben, ist so alt wie diese selbst. Häufig war solche Kritik mit historischen Überlegungen und Argumenten verbunden, sei es, um gegenüber einer guten Vergangenheit eine schlechte Gegenwart zu diagnostizieren oder auch umgekehrt. Francis Bacon etwa verband seine Vision einer auf dem „experimentum“ gegründeten und gesellschaftlich nützlichen Naturforschung mit schärfster Kritik an allen bisherigen Bestrebungen. Die Beispiele machen auch deutlich, wie stark der Blick auf die Geschichte von der Inanspruchnahme für andere Zwecke geprägt sein kann: Bacon etwa hat, um seine kritischen Argumente stark zu machen, wichtige, ihm wohl bekannte Forschungspraktiken wie Alchemie aus der historischen Analyse ausgeblendet. Und sein „Novum Organon“ wurde seinerseits für eine Vielzahl divergierender wissenschaftlicher Methoden in Anspruch genommen.
Um zwei Fragenkomplexe wird es damit insbesondere gehen: Zum einen sollen historische Fälle untersucht werden, in denen „Geschichte“ für politische, gesellschaftliche, ökonomische oder andere systematische Reflexionen auf Wissenschaft, Medizin und Technik mobilisiert wurde. Auf welche Weise standen historische Untersuchungen und systematische Wissenschafts-, Medizin- und Technikreflexion im Sog politischer (z.B. Kolonialismus oder Kalter Krieg), industrieller (Pharmakotherapie wie z.B. durch Prozac), wissenschaftskritischer (z.B. Starnberger Institut), philosophischer (z.B. rationale Rekonstruktion, Epistemologie), gesellschaftspolitischer (z.B. die Polemiken um den Sozialkonstruktivismus) oder noch anderer Interessen? Welche Verhältnisse sind diese Untersuchungen historisch zu philosophischen, soziologischen oder ethischen Ansätzen eingegangen? Wie stehen sie in Beziehung zu verschiedenen Formen von Öffentlichkeit? Solche Fälle finden sich verstärkt in den europäischen Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts, aber auch in sehr vielen anderen Kulturen und früheren historischen Phasen.
Zum anderen sollen Verhältnisse thematisiert werden, die Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte heute zu anderen, sich kritisch bzw. reflektierend verstehenden Feldern wie Gender Studies, Science and Technology Studies, Soziologie, Philosophie, Kultur- und Medienwissenschaften eingehen können. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich hierbei verfolgen? Wie wird mit der auch in den historischen Disziplinen beobachtbaren Tendenz zu rezenten Themen und dem wachsenden Trend zur Antiquarisierung der „älteren“ (d.h. nicht jüngsten) Geschichte umgegangen? In den derzeitigen universitären Strukturen sind unsere Felder in zunehmendem Umfang und mit teils existentiellen Folgen zur Zusammenarbeit mit anderen reflektierenden Feldern (z.B. Soziologie, Philosophie, Ökonomik) oder unseren Objektdisziplinen in Naturwissenschaften, Technikwissenschaften oder Medizin aufgefordert: Welchen Beitrag kann Geschichte hier leisten, ohne ihr genuines Betätigungsfeld und ihre Standards zu gefährden oder sich vereinnahmen zu lassen?
Die Tagung soll damit insgesamt Raum bieten für eine breite Reflexion über die Herausforderungen, denen Medizin-, Wissenschafts- und Technikgeschichte heute gegenübersteht, und zugleich Anlass geben, die historischen Dimensionen von Wissenschafts-, Technik- und Medizinreflexion auszuleuchten.
Der Vorstand weist ausdrücklich auf die Möglichkeit hin, auch Vorträge und Sektionen vorzuschlagen, die sich nicht auf das Rahmenthema beziehen.
Vorschläge für Einzelvorträge sind mit Abstract (max. 1 Seite) einzureichen, bei Sektionen sind die Abstracts der Einzelbeiträge und eine Zusammenfassung einzureichen. Die Beteiligung junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist ausdrücklich erwünscht; bei gleicher Qualität werden Sektionen, die akademische Generationen überspannen, bevorzugt. Für Vortragende aus dem Ausland wird die Gesellschaft Reisekosten bei der DFG beantragen.
Vorschläge sind (vorzugsweise per mail) bis zum 1. März 2017 zu richten an den Schriftführer der GWMT:
Prof. Dr. Philipp Osten
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
N30b Fritz Schumacher-Haus
Martinistraße 52
20246 Hamburg
p.osten@uke.de