Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt „Die Nuklearkrise in den 1970/80er Jahren“ erforscht die Auseinandersetzung um die atomare Bewaffnung und das Thema „Frieden“ im Kontext der erneuten Verschärfung des Ost-West-Konfliktes im sogenannten Zweiten Kalten Krieg nach einer Phase der relativen Enstpannung. Die in Mannheim ansässige Forschungsgruppe um Anne Bieschke, Johannes Schneider und Richard Rohrmoser veranstaltet vom 23. bis 25 März 2017 eine Tagung mit dem Titel „,Nuklearkrise Revisited‘ – Vom Ende der Entspannungspolitik bis zur letzten Phase des Kalten Krieges“ für DoktorandInnen und junge Post-DoktorandInnen, um neue Perspektiven und Thesen auf die Nuklearkrise, den NATO-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung zu diskutieren und um bereits gewonnene Ergebnisse zu präsentieren. Im Mittelpunkt steht demnach der Zeitraum der späten 1970er sowie die frühen/mittleren 1980er Jahre und die Frage, welche gesamtgesellschaftlichen Selbstverständigungs- und Transformationsprozesse während dieser außen- und sicherheitspolitischen Kontroverse stattfanden.
Zu Beginn der 1980er Jahren stieg auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs die Furcht vor einer militärischen Eskalation. Im Westen brachte der NATO-Doppelbeschluss Hunderttausende auf die Straße. Insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland entbrannte eine regelrechte „Raketenkontroverse“, die an den Grundfesten der Demokratie rüttelte. Der Widerstand gegen den Doppelbeschluss unterschied sich dort wegen national-historischer Spezifika von dem Protest in anderen westeuropäischen Staaten maßgeblich und erlangte eine besondere Vehemenz. Entlang der innerdeutschen Grenze standen sich einerseits NATO und Warschauer Pakt direkt gegenüber; das Land wäre im Falle einer militärischen Konfrontation womöglich komplett zerstört worden. Andererseits brachen sich im Nachrüstungsstreit die nach wie vor virulenten Themen „NS-Vergangenheit“ und „Holocaust“ erneut bahn. Ebenso stand die ideelle und bündnispolitische Verankerung der Bundesrepublik im „Westen“ in massiver Kritik.
Die bundesdeutsche politische Landschaft erfuhr im Zuge der Auseinandersetzung um den „richtigen“ sicherheitspolitischen Weg nachhaltige Veränderungen: Mit den „Grünen“ gelang einer tief im Protestmilieu verwurzelten Partei im März 1983 der Einzug in den Bundestag; in der SPD zerbrach im Streit der innerparteiliche Konsens; die konservative Union festigte ihre Stellung als verlässlicher transatlantischer Partner der USA. Der Streit innerhalb und zwischen den beiden Volksparteien in der Nachrüstungsfrage offenbarte weiterhin eine tiefgehende Verunsicherung über Zustand und Zukunft der BRD. Auch wenn letztendlich gegen alle Widerstände die Nachrüstung beschlossen wurde, war deutlich geworden, dass ein einfaches „Weiter so“ nicht mehr möglich war. Gleichzeitig hatte die Bundesrepublik in der zwar umstrittenen, aber demokratisch-rechtmäßig durchgeführten Auseinandersetzung eine Bewährungsprobe bestanden, die letztlich dem demokratischen Selbstverständnis des Staates und der Gesellschaft zuträglich war.
Zu diesem Ergebnis trug auch der Protest der Friedensbewegung maßgeblich bei. Ihre Heterogenität, Expertise und Öffentlichkeitswirksamkeit formierte eine Gegenkultur, die bisherige top down Entscheidungsmuster in Frage stellte. Trotzdem gelang es den Gegnern der NATO-Nachrüstung nicht, die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen zu verhindern. Stattdessen zerbrach die Friedensbewegung nach dem Wegfall des „Dachthemas“ durch den Stationierungsbeschluss des Bundestags vom November 1983. Lediglich vereinzelt und im Regionalen hielt sich der Protest, während das Thema in der breiten Öffentlichkeit schnell an Bedeutung verlor. Beispielsweise blockierten Demonstranten ein Raketendepot der US Army in der schwäbischen Gemeinde Mutlangen im Sinne des zivilen Ungehorsams in regelmäßigen Abständen, bis der INF-Vertrag 1987 endgültig die Kontroverse um amerikanische und sowjetische Mittelstreckenrakten beendete. Dennoch ist zu konstatieren, dass nunmehr der Topos „Frieden“ keine vergleichbare Massenmobilisierung der Bevölkerung mehr auslöste. Vielmehr ist anhand der geringen Mobilisierung im Zuge des Golfkrieges 1990 zu prüfen, ob in der Zwischenzeit nicht das Thema „Umwelt“ („Tschernobyl-Schock“) das Thema „Frieden“ überlagert hatte und ob der jahrelange Protest gegen die Nachrüstung nicht auch zu einer Art Lebensgefühl wurde, das sich nach der Enttäuschung im „Heißen Herbst“ 1983 nunmehr in Resignation ausdrückte.
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die Tagung „‚Nuklearkrise Revisited‘ – Vom Ende der Entspannungspolitik bis zur letzten Phase des Kalten Krieges“ mit Themen, die im Kontext folgender Orientierungs- und Leitfragen stehen: Inwiefern ist der Begriff „Kalter Krieg“ noch als Ordnungssystem für die Ereignisse in den 1980er Jahren zutreffend? Waren die binären Denkparadigmen des Ost-West-Konfliktes nicht bereits aus der Zeit gefallen? War der Nachrüstungsstreit insofern lediglich eine weitere (und finale) Klimax in der Gesamtkonstellation der dichotomen Blockkonfrontation, aber kein „Zweiter Kalter Krieg“? Wie groß waren demnach die Meriten der Friedensbewegung? War diese tatsächliche der Katalysator für das Tempo, die Richtung und die Intensität des sozialen Wandels oder riss diese nur marode Mauern ein und die Gesellschaft befand sich längst in einem Prozess der gesamtgesellschaftlichen Verständigung und Liberalisierung? Spielte das Thema „Frieden“ nach 1983 überhaupt noch eine übergeordnete Rolle oder wurde es bereits durch den Topos „Umwelt“ überlagert? Darüber hinaus stellen sich die Fragen, welchen Vortrieb Modernitätsskepsis und Zukunftsangst in der westdeutschen Bevölkerung dem Protest gaben, wie nachhaltig der Streit um die Nachrüstung für Gesellschaft und Politik war und welche Bedeutung die „Raketenkontroverse“ noch bzw. wieder für die heutige Zeit hat? Schließlich wurde in den letzten Jahren Russland seitens der USA zunehmend beschuldigt, den INF-Vertrag durch die Produktion von bodengestützten Marschflugkörpern zu verletzen, während die Russen ihrerseits dem NATO-Bündnis ob dessen Großmanöver in Polen „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ vorwerfen.
Interessenten der Tagung bitten wir um die Einreichung eines Papers, das die Argumentation und die Thesen im Rahmen der oben aufgeworfenen Fragen wiedergibt und im Anschluss an die Tagung gegebenenfalls zu einem Beitrag in einem Tagungsband erweitert werden kann.
Bitte senden Sie Ihren Vorschlag für einen Vortrag (max. 500 Worte) und einen kurzen akademischen CV (max. 2 Seiten) bis zum 31. Januar 2017 an Richard Rohrmoser (richard.rohrmoser@uni-mannheim.de). Deutsche Sprachkompetenz wird vorausgesetzt, Vorträge können jedoch auf Englisch gehalten werden.
Finanziert wird die Tagung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, DFG.
Reise- (2. Klasse, Economy) und Übernachtungskosten werden übernommen.
Kontakt
Richard Rohrmoser
Historisches Institut - Lehrstuhl für Zeitgeschichte
L7,7, 1. OG - 68161 Mannheim
(0621) 181-2263
richard.rohrmoser@uni-mannheim.de