Bürokratisierung und Identitätskonstruktion im kolonialen und postkolonialen Kontext (1500–2015)

Bürokratisierung und Identitätskonstruktion im kolonialen und postkolonialen Kontext (1500–2015)

Veranstalter
Deutsches Historisches Institut Paris in Zusammenarbeit mit dem CREPOS, CERI Science Po und mit Unterstützung der Deutsch-französischen Hochschule.
Veranstaltungsort
DHIP, 8 rue du Parc-Royal, 75003 Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
03.07.2017 - 07.07.2017
Deadline
15.03.2017
Von
Niels F. May

Nahezu in allen Bereich sind bürokratische Praktiken Teil unseres Alltags. Unter Bürokratie verstehen wir eine Herrschaftsform, die in all jenen Gemeinwesen zu Tage tritt, die durch Professionalisierung, Hierarchien und rationale Normen gekennzeichnet sind. Häufig mit dem Staat assoziiert, gehen bürokratische Praktiken über das rein öffentliche Wirkungsfeld hinaus. Unser Leben wird von ihnen im privaten und beruflichen Bereich genauso bestimmt und strukturiert wie im politischen. Das reicht von der Erfassung der Geburtsurkunde bis zur Steuererklärung, von der Mitgliedskarte im Fußballverein zur Teilnahme an Wahlen, von der Verbandsmitgliedschaft zur Vermietung einer Wohnung, vom Darlehen bei einer Bank hin zur Aufnahme in einer Klinik. Bürokratische Praktiken werden nicht nur »von oben« aufgezwungen, sondern auch im Alltag »von unten« erfunden, herausgefordert und neuformuliert. In den letzten Jahrzehnten haben sie sich im Zuge von Globalisierung, der Existenz multinationaler Unternehmen und der Implementierung neoliberaler Regierungsprinzipien verstärkt. Der massive Rückgriff auf Statistiken bestätigt, dass wir in einem bürokratischen Universum leben, in dem der Gebrauch von Zahlen im Zentrum von Machtbeziehungen innerhalb von Verwaltungen, Unternehmen, Verbänden und sogar der Politik steht. Dazu kommt, dass viele aktuelle Konflikte teilweise mit bürokratischen Praktiken einhergehen. Dies betrifft sowohl Staaten in ihrem Anspruch, Personen und Territorien zu beherrschen, als auch Akteure in Bürgerkriegen, Piraten, Schleuser oder die Arbeitswelt. Zunehmend kommt es zu Spannungen, die auf die steigende Bedeutung zahlengebundener Indikatoren, Benchmarking, Berichtssysteme, quantitativer Auswertungen oder vielschichtiger Prozesse der Normalisierung, Rückverfolgbarkeit und Zertifizierung zurückzuführen sind.

Bürokratie ist eine gesellschaftliche Organisationsform. Seit über fünfhundert Jahren hat sie die Welt »erobert«. Was wie eine Erfolgsgeschichte erscheint, hatte verschiedene Ursprünge und war zugleich von Widerständen, Transformationen und Neuinterpretationen geprägt. Diese haben dazu beigetragen, bürokratische Praktiken lokal anzupassen und zu vereinnahmen. Dies wird besonders deutlich in der Rolle bürokratischer Praktiken bei der Produktion und Repräsentation von Identitäten infolge von Identifikationsprozessen. Auch Afrika und andere (post-)koloniale Regionen sind diesem Prozess nicht entgangen. Die Festlegung kolonialer, föderaler oder nationaler Territorien, die Registrierung von Einwohnern und das Ausstellen von Ausweispapieren, Pässen und anderen Passierscheinen, statistische Erhebungen von Altersangaben sowie sozialer, ökonomischer und ethnischer Kategorien, die Bestimmung von Zugehörigen zu Dorfvereinen und tontines, die zunehmende Bedeutung der Quantifizierung durch Strukturanpassungsprogramme, Inklusion und Armutsbekämpfung… all diese sozialen Organisationsformen gehen Hand in Hand mit bürokratischen Praktiken, die (wiederum) die Konstruktion von Identitäten und Identifikationen schaffen, verstärken und verstetigen können. Häufig als kulturelle, soziale oder politische Ausdrucksformen betrachtet, schreiben sie sich auch in Texte, Vorschriften, Kriterienkataloge und Kategorisierungen ein. Die Untersuchung kolonialer und postkolonialer Kontexte eröffnet also ein weites Forschungsfeld über das Wechselverhältnis von Bürokratie und Identitätskonstruktion. Wer sind »wir« und wer sind die »anderen«? Eine Annäherung an diese so alten wie nach wie vor politisch brisanten Fragen ist nur möglich, indem man die Rolle bürokratischer Praktiken im gesellschaftlichen Leben und ihre Bedeutung in verschiedenen Kontexten berücksichtigt.

Die deutsch-französische Sommeruniversität will diese Fragen aus interdisziplinären, epochenübegreifenden und transnationalen Perspektiven erforschen. Diese trilaterale deutsch-französisch-senegalesische Veranstaltung soll zu einem besseren Austausch in den Afrikastudien zwischen Europa, Afrika und anderswo beitragen. Dazu umfasst die Sommeruniversität die Lektüre theoretischer Texte, Präsentationen zu bestimmten Problematiken und Fallstudien sowie Diskussionen. Ziel ist es, eine Grundlage für zukünftige Forschung und Reflektion zu schaffen, welche neue Perspektiven und innovative Ergebnisse erlaubt.

Die Sommeruniversität wird vom transnationalen Forschungsprogramm »Die Bürokratisierung afrikanischer Gesellschaften« und dessen Partnern organisiert. Sie wird koordiniert vom Deutschen Historischen Institut Paris (DHIP), dem Centre de recherches internationales (CERI) der Sciences Po Paris und dem Centre de Recherche sur les Politiques sociales (CREPOS) in Dakar/Saint Louis (Sénégal) und von der Deutsch-Französischen Hochschule unterstützt.

Bestätigte Redner/innen: Peter Becker, Thomas Bierschenk, Simona Cerutti, Birgit Emich, Jean-Pierre Grossein, Carolyn Hamilton, Béatrice Hibou, Matthew S. Hull, Istvàn Kristo-Nagy, Elísio Macamo, Nayanika Mathur, Jean-Pierre Olivier de Sardan, Ursula Rao, Boris Samuel

Die Sommeruniversität richtet sich an Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler (Doktoranden und Postdoktoranden), aber auch an Masterstudierende mit einem Forschungsprojekt aus dem Bereich »Bürokratisierung und Identitätskonstruktion«. Vorschläge aus verschiedenen Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften sind willkommen, insbesondere Geschichte, Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Politikwissenschaften. Kenntnisse der französischen Sprache werden vorausgesetzt.

Die Bewerbungen werden von Susann Baller, Sévérine Awenengo Dalberto, Béatrice Hibou und Niels F. May begutachtet. Auswahlkriterien sind wissenschaftliche Leistung und das Interesse an methodischen Fragestellungen. Die Anbindung an eine afrikanische, französische und/oder deutsche Universität oder Forschungsinstitution ist ein Vorteil, aber kein Ausschlusskriterium. Ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden die Reisekosten teilweise erstattet.

Bitte senden Sie Ihre Bewerbungsunterlagen in einem einzelnen PDF-Dokument bis zum 15. März an: nmay@dhi-paris.fr. Enthalten sein sollten:
1. Abstract des geplanten Vortrags (max. 500 Wörter)
2. Akademischer Lebenslauf mit Publikationsliste, Angaben zu Ihren Sprachkenntnissen.

Programm

Kontakt

May

DHIP, 8 rue du Parc-Royal, 75003 Paris

nmay@dhi-paris.fr

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