Menschen handeln. – Das scheint evident, wenn auch in Philosophie und Soziologie zum einen der Begriff des Handelns oft infrage gestellt und zum anderen versucht wird, den Anwendungsbereich dieses Begriffs auf Natur und Artefakte zu erweitern. Jedoch setzen ihn alle modernen Institutionen, vor allem das Rechtssystem, mehr oder weniger stillschweigend voraus. Handeln bedeutet innerhalb der akteursorientierten soziologischen Theorien üblicherweise das zielgerichtete, intentionale Verhalten. Der Akteur bemüht sich, seine Ziele nach der – stets subjektiven – Abwägung der geeignetsten Mittel zu realisieren. In diesem Modell – in der philosophischen Tradition poiesis genannt – wird der Sinn des Handelns mit dem zu realisierenden Zweck identifiziert.
Es war Martin Heidegger, der bemerkte, dass dieses in der europäischen Denktradition überlieferte und als selbstverständlich angenommene Modell des Handelns als poiesis mit zwei anderen Annahmen zusammenhängt: Erstens dem Sein als Hergestellt-Sein und Vorhanden-Sein; zweitens der linearen Zeitvorstellung, der zufolge Vergangenheit nur die vergangene Gegenwart und die Zukunft nur die herannahende Gegenwart bedeutet. Die lineare Zeit als Kontinuum – also ohne Bruch – ist zugleich eine unentbehrliche Voraussetzung für die kausale Erkenntnis und die kausale Zurechnung. Max Webers Beharren auf der kausalen Erkenntnis und das Zweckhandeln als soziologische Grundkategorie sind die beiden Seiten derselben Medaille. Seitdem versuchte die soziologische Handlungstheorie mehrere Korrekturen an diesem poietischen Paradigma, die wesentliche Bestimmung blieb jedoch unangetastet. Sowohl der Homo oeconomicus als auch der Homo sociologicus lassen sich als Variante des herstellenden Verhaltens (poiesis) ansehen. Zwecke und Normen realisieren bzw. bekunden sich als Handlungssinn durch bzw. im Handeln. Was durch menschliches Verhalten (Handeln) geäußert und objektiviert wird, variiert von Theorie zu Theorie. Hierzu gehören nicht nur Zwecke, Ziele und Absichten, sondern auch Werte und Normen, nicht nur explizites Wissen im Bewusstsein, sondern auch das vom Körper getragene, implizite Wissen (Habitus). Das Grundschema des herstellenden Verhaltens aber – die Realisierung von etwas, was vor dem Tun irgendwo und irgendwie potenziell schon vorhanden ist, durch das menschliche Verhalten (Handeln), die Objektivierung des Subjektiven – bleibt unerschüttert, weil man die beiden anderen Annahmen über Sein und Zeit nie infrage gestellt hat.
Andererseits unterschlug schon Max Weber keineswegs den idealtypischen Charakter zweckrationalen Handelns. Dass ein Mensch hinsichtlich des Zweckes, Mittels oder Werts bewusst agiert, ist eher ein Grenzfall. Der subjektive Handlungssinn existiert nicht immer ex ante (vor der Ausführung eines Handelns im „Bewusstsein“ bzw. im Körper), sondern wird einer Tat ex post durch die rückblickende Konstruktion und (nicht selten) externe Beobachter zugewiesen. Insofern ist die poietische Kategorie des Handelns eine Kategorie der (Selbst )Beobachtung mit der Funktion, die Komplexität der uns anschaulich gegebenen Wirklichkeit zu reduzieren und eindeutige, evidente und verständliche Sinnzusammenhänge zu generieren. Menschen handeln also nicht – zumindest nicht immer. Wahr ist, dass wir – seit Platon und Aristoteles, aber vor allem seit der Durchsetzung der Moderne – darauf getrimmt sind, bestimmte Vorgänge einschließlich der eigenen Körperbewegung als „Handeln“ zu betrachten und zu beschreiben. Dieser historische Vorgang geht zugleich einher mit der Implementierung des modernen Subjekts als institutionelle Fiktion – als Handlungs- und Rechtssubjekt mit Bewusstsein und Verantwortbarkeit, wobei, wer nicht zweckmäßig handeln, sein körperliches Verhalten nicht unter Kontrolle bringen und sich nicht i.S. der unterstellten Subjektfiktion selbst steuern kann, mit verschiedenen Etiketten (Natur, Frau, Kind, Orientaler, Proletarier usw.) aus der sozialen Welt exkludiert wird (Ariès, Foucault u.a.).
Das sozialtheoretische Poiesis-Paradigma zeigt bis heute mehrere konzeptionelle Schwächen. Dazu gehören (hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit), (1) dass sich die menschlichen Tätigkeiten nicht in poiesis erschöpfen, vor allem wenn es um Beziehungen zwischen Menschen geht. Außerdem ist der Sinn des Handelns nicht ausschließlich auf Absichten bzw. Normen reduzierbar; ferner ist (2) nach diesem Modell die Zukunft nichts anderes als eine Folge der Vergangenheit, womit „die Zukunft als authentische Zeitform“ geleugnet wird (Hannah Arendt, Leben des Geistes, Bd. 2, 1989, 18). In dieser Denktradition wird jedenfalls das Mögliche durch das herstellende Verhalten hier und jetzt realisiert und in das Wirkliche umgesetzt. Mit der Zukunftsoffenheit wird dann auch in der neueren Praxistheorie nur die Zweiwertigkeit bezeichnet, d. h., ob Praktiken gelungen oder misslungen sind, fortgesetzt werden oder nicht. Es fällt in diesem Paradigma sehr schwer, etwas wirklich Neues, einen wirklichen Neuanfang zu denken (Problem der Emergenz); schließlich (3) wird diese Denktradition der Einzigartigkeit eines Individuums und der Pluralität der Menschen nicht gerecht. Jede Einzelhandlung bedeutet danach lediglich mal eine gute, mal eine schlechte Realisierung eines Zwecks und von Normen bzw. Vorgaben und Habitusformen.
Ausgehend von dieser Problemlage wird die Gründung einer neuen Arbeitsgruppe in der Sektion Kultursoziologie angestrebt, die sich der Rekonstruktion und Erforschung des postpoietischen Paradigmas als Alternative zum poietischen Paradigma der Handlungstheorie widmet. Zu den Fragestellungen der Arbeitsgruppe gehören beispielsweise – auf der sozialtheoretischen Ebene: Welche Alternativen zum Poiesis-Modell lassen sich (etwa im Anschluss an Heidegger, Arendt, aktuelle Überlegungen zum Begriff der Emergenz und des Ereignisses oder die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours und anderer Agency-Konzepte) entwickeln? Welche Verbindungen von Formen menschlicher Tätigkeiten (Arbeit, Herstellen, Handeln…) und Zeitvorstellungen können jenseits von poiesis und linearer Zeit gedacht werden? Wie wird die Soziologie der von Hannah Arendt postulierten Pluralität der Menschen theoretisch und methodisch gerecht?; auf gesellschaftstheoretischer Ebene: Unter welchen soziostrukturellen Bedingungen hat sich die Kategorie der poiesis durchgesetzt? Inwiefern hat die Rezeption des römischen Rechts und/oder des modernen europäischen Rechtssystems zur Implementierung der Kategorie der poiesis und zur Schaffung des modernen Handlungssubjekts mit Bewusstsein beigetragen? Ist poiesis eine Universalie, oder können wir uns ein Subjekt, eine Handlungstheorie, eine Gesellschaft vorstellen, die nicht durch diese Kategorie determiniert sind? Wie können wir ein Phänomen, das im Poiesis-Paradigma als irrational betrachtet wird (z.B. das Verzeihen), plausibler fassen? Welchen Stellenwert erhält die religiöse Erkenntnis im postpoietischen Denken?
Der geplante Gründungsworkshop strebt eine möglichst breite und systematische Ideensammlung bzw. Problemformulierung an.
Es wird bis zum 31. Oktober 2017 um die Einsendung von Referatsvorschlägen (max. 1 Seite) gebeten, zu richten an:
PD Dr. Takemitsu Morikawa, Universität Luzern, Soziologisches Seminar, Frohburgstrasse 3, PF 4466, 6002 Luzern, Schweiz (takemitsu.morikawa@doz.unilu.ch);
Dr. Christian Dries, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Soziologie, Rempartstraße 15, 79085 Freiburg i. Br., Deutschland (christian.dries@soziologie.uni-freiburg.de)