Erziehung und Bildung spielten in allen Epochen, Kontexten und Kulturen eine zentrale Rolle. Sie dienten dazu, die Menschen in ihre jeweiligen sozialen und religiösen Kontexte einzuführen, den Status quo zwischen den Ständen und Gruppen zu erhalten, das menschliche Zusammenleben zu gestalten und die Ideale und Ziele von Gesellschaften und Religionen auch für die Zukunft zu sichern. Gängig ist dabei die Vorstellung, dass sich bis zum Beginn der Neuzeit Erziehung und Bildung vorrangig als Tradierung zeigten. So wurden der nachfolgenden Generation etwa handwerkliche Fertigkeiten durch Zeigen weitergegeben, geistige Werte, wie sie in wichtigen Texten, v.a. in ‚heiligen Schriften‘ fixiert waren, durch Memorisieren. Demgegenüber möchte die Tagung zum einen der Frage nachgehen, inwiefern sich parallel oder konkurrierend zu solch einer tendenziell tradierend-versichernden Erziehung auch Vorläufer ‚aufgeklärter‘ Bildung finden lassen, die dem Einzelnen nicht nur einen größeren Handlungsspielraum zubilligten, sondern auch mehr Eigenverantwortung abverlangten und persönlichen wie kulturellen Fortschritt propagierten: Wie weit sind hier Erziehungsideale und Prozesse zu finden, wie man sie gemeinhin der ‚Aufklärung‘ des europäischen 18. Jahrhunderts – dem ‚pädagogischen Jahrhundert‘ zuschreibt? Zum anderen soll danach gefragt werden, inwiefern die Bildungskonzepte seit dem 19. Jahrhundert als (kritische?) Rezeption des ‚aufgeklärten‘ Jahrhunderts zu verstehen sind. Hier wie dort soll nach Motiven, handlungsleitenden Werten und Orientierungspunkten, nach Akteurinnen und Akteuren gefragt werden sowie danach, welche Rolle Vernunft, Mensch, Welt oder Zukunft als ‚aufklärerischen‘ Kategorien zukam.
‚Aufklärung‘ wird hier in historisch-anthropologischer Perspektive als schillerndes Phänomen verstanden. Im europäischen Kontext weist sie einerseits (wie etwa stärker in der französischen Aufklärung) autoritätskritische, emanzipatorische und antikirchliche, andererseits aber auch (wie z.B. deutlicher in der deutschen ‚Volksaufklärung‘) utilitaristische, paternalistische oder philanthropische Tendenzen auf und geht hier auch insbesondere mit dem Protestantismus, aber auch mit dem Katholizismus sowie dem Judentum Allianzen ein. Sie führte auch zu Prozessen der Säkularisierung in dem Sinne, dass die religiöse Strukturierung des gesellschaftlichen Lebens sukzessive zurückging und Religion nicht mehr für das ganze Leben, sondern lediglich für bestimmte Bereiche oder Fragen als zuständig erachtet wurde (H. Lübbe). Zugleich traten auch immer wieder Rechristianisierungs- oder Sakralisierungsprozesse auf, so dass Hartmut Lehmann das 19. und 20. Jahrhundert „als die irrationalsten Jahrhunderte“ (H.Lehmann 1997) der Neuzeit bezeichnet hat. Dennoch scheint ‚Aufklärung‘ – zumindest aus europäischer Sicht – einen nicht mehr hintergehbaren Geistes– und Wertekosmos darzustellen, der zugleich nicht frei von kritikwürdigen Entwicklungen ist, die sich etwa in einer problematischen Selbstüberschätzung, in einem engen Rationalismus oder einem naiven Fortschrittsoptimismus zeigen konnten. Zu fragen ist, inwieweit diese Vorstellungen über den europäischen Kontext hinaus rezipiert wurden bzw. außereuropäisch vergleichbare Entwicklungen stattgefunden haben. Angesichts der aktuellen Migrationsbewegungen ist hier besonders der Blick auf islamische Kontexte interessant.
Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, ob und inwiefern ‚Aufklärung‘ einen Forschungsbegriff darstellen könnte, der epochen- und kulturenübergreifend neue Erkenntnisse in pädagogischer Hinsicht ermöglichen und darin zeigen könnte, inwiefern Erziehung und Bildung immer auch eine ‚erhellende‘, auf Erkenntnis oder Fortschritt angelegte Funktion hatte. Von daher stellt sich die Frage, ob man sinnvollerweise von ‚Aufklärung‘ als einem genuinen Moment pädagogischen Handelns sprechen kann, so dass auch jenseits des europäischen 18. Jahrhunderts sinnvoll von ‚Aufklärung(en)‘ als anthropologisch-pädagogischem Konzept gesprochen werden könnte. Für die bildungshistorische Forschung könnte es dabei besonders vielversprechend sein, pädagogische Zusammenhänge nach Phänomenen der Rationalisierung, Differenzierung und Pluralisierung zu untersuchen (H.-U. Musolff/S. Hellekamps).
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen sind eingeladen, der hier dargestellten Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven nachzugehen und sich dabei ausdrücklich nicht auf die europäische ‚Aufklärung‘ des 18. Jahrhunderts zu beschränken, sondern vergleichbare Entwicklungen in früheren und späteren Epochen und auch in außereuropäischen Kulturen zu analysieren und mögliche Konvergenzen oder Divergenzen zur skizzierten Forschungsfrage aufzuzeigen. Folgende Perspektiven bieten sich an:
- Bildung zum ‚Subjekt‘ bzw. zum ‚aufgeklärten‘ Menschen (oder ähnliche anthropologische Konzepte in anderen kulturellen Kontexten): ‚Aufgeklärte‘ Bildung zielt v.a. auf die Formung des Subjekts. Dabei spielen Vernunftorientierung, Verantwortung und Nützlichkeit eine wichtige Rolle. Zu fragen wäre, wie diese Aspekte gewichtet werden und welche gendertheoretischen Implikationen damit verbunden sind, aber auch, wie anschlussfähig der Subjektbegriff im transkulturellen Vergleich ist, sofern man etwa jüdische oder islamische Konzepte berücksichtigt.
- Bildung und Zeitkonzepte: Durch die christliche Tradition wurde für Europa ein lineares, auf Zukunft orientiertes Zeitkonzept prägend. Dadurch stieg der Stellenwert von Erziehung und zielte immer auch auf eine ‚Verbesserung‘ von Mensch und Gesellschaft – eine Intention, die den menschlichen ‚Fortschritt‘ idealisierte und auch religiös gedeutet oder sakral überhöht werden konnte. Inwiefern können oder sollen solche Konzepte (dennoch?) ‚aufklärerisch‘ wirken?
- Bildungstheorie und ‚aufgeklärte‘ Praxis: Theoretische Konzepte und praktische Umsetzung stehen immer in Spannung zueinander. Zu fragen ist, inwiefern bei der Umsetzung bestimmter Bildungstheorien die intendierte ‚aufklärerische‘ Wirkung verloren geht oder aber – ‚subversiv‘ – nicht-intendiertes ‚aufklärerisches‘ Potenzial freigesetzt werden kann.
- Kindheit in ‚aufgeklärter‘ Perspektive: Bildungskonzepte adressieren zumeist Kinder und Kindheit. Welche Rolle spielen dabei nicht erst seit dem 18. Jahrhundert, sondern auch in der Vormoderne ‚aufklärerische‘ Erziehungsziele? Welche gesellschaftlichen Erwartungen und Konsequenzen waren damit verbunden?
- Bildung und Religion: Inwiefern beförderte oder behinderte Religion pädagogische Anliegen? Wie wirkten ‚aufklärerische‘ Bemühungen auf Religion zurück? Nicht zuletzt im Hinblick auf Judentum und Islam ist dies je unterschiedlich besonders interessant. Zeigen sich vielleicht gerade im europäischen Judentum, das Erziehung als genuin religiöse Aufgabe verstand, besonders auffällige Wechselwirkungen? Ist nicht gerade Bildung im Islam derjenige Bereich, in dem der Transfer der europäischen Werte am ehesten möglich erscheint?
Die Tagung wird veranstaltet vom Zentrum für Historische Europastudien im Saarland (ZHEUS) der Universität des Saarlandes in Zusammenarbeit mit der Université du Luxembourg, dem Institut für Historische Anthropologie e.V. und dem Arbeitskreis Vormoderne Erziehungsgeschichte (AVE) der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.
Vorschläge für Tagungsbeiträge werden bis 15.1.2018 erbeten an Prof. Dr. Anne Conrad/Dr. Alexander Maier, Universität des Saarlandes, Philosophische Fakultät, Campus A 4.2, 66123 Saarbrücken, a.conrad@mx.uni-saarland.de oder amaier@mx.uni-saarland.de