Call for Papers
„Gebessert entlassen.“ Heilen in der psychiatrischen Theorie und Praxis zwischen 1800 und 1970.
Institut f. Geschichte d. Medizin, Heidelberg 6. & 7. April 2018
Während in kaum einer anderen medizinischen Disziplin die Praxis und die Möglichkeit des ‚Heilens‘ so in Frage gestellt worden ist, wie in der Psychiatrie, steht eine systematische Untersuchung des ‚Heilens‘ in der Psychiatriegeschichte noch aus. Die bisherige Verdichtung auf ein semantisches bzw. terminologisches Problem macht eine historiographische Perspektiverweiterung um Akteure, ihre Körper und Handlungen erforderlich. Thematisch konkretisiert bedeutet das: Wo und wie wurden ‚Heilungen‘ gedacht, hervorgebracht, ausgelebt, beobachtet, verschriftlicht, evident gemacht und proklamiert?
Wir gehen davon aus, dass Heilungen nicht nur in Fachliteratur theoretisch gefasst, zwischen Aktendeckeln beschrieben und in Entlassungsstatistiken dokumentiert wurden, sondern in räumlichen Anordnungen, materialen Konfigurationen und mittels verschiedenster Körperpraktiken produziert wurden. Von hier aus soll das Phänomen Heilung im Rahmen einer Konferenz ausgelotet werden. Diese thematischen Fragen methodologisch zu wenden bedeutet: Wie kann die Komplexität des ‚Heilens’ historiographisch und konzeptuell gefasst werden? In der Konferenz „Gebessert Entlassen. Heilung in der psychiatrischen Theorie und Praxis zwischen 1800 und 1970“ möchten wir neue Wege in der historiographischen Auseinandersetzung mit dem psychiatrischen Behandeln, dessen materiellen, praktischen sowie diskursiven Bedingungen und seinen therapeutischen Effekten erproben.
Selbst jüngere historiographische Versuche, das ‚Heilen‘ in der Psychiatrie zu thematisieren, bleiben häufig der dichotomen Ordnung von therapeutischem Fortschritt einerseits und Disziplinierung beziehungsweise Dressur andererseits verhaftet. Deshalb ist der Bedarf an neuen Perspektiven auf erlebte, erzählte und festgestellte ‚Heilungen‘ umso nötiger. Die verbreitete Enttäuschung über innovative Psychopharmaka, die Skepsis gegenüber psychiatrischem Handeln, die Konjunkturen der Medikalisierung und Demedikalisierung von Verhaltens- und Erlebnisweisen fordern den historisierenden Blick auf gegenwärtige Praktiken und Wissensbestände. So könnte danach gefragt werden: Weshalb wird die therapeutische Potenz der Psychiatrie einerseits immer wieder in Frage gestellt? In welchem Verhältnis stehen diese Zweifel zu Fortschrittskonjunkturen andererseits? Bereits im 19. Jahrhundert trat die Psychiatrie als medizinische Disziplin mit einem Heilversprechen auf den Plan. Patienten traten nicht nur in die Anstalt ein, sondern auch aus. Sie waren gebessert, sozial gebessert, remittiert oder gar geheilt. Aus diesem Befund folgen weitere Fragen: Welche klinisch-therapeutische Versuche wurden unternommen und wie wandelten sich die Verfahren der Bewertung und Feststellung des Behandlungserfolgs? Was taten Psychiater_innen, Wart- und Pflegepersonal, Psychotherapeut_innen sowie Heil- und Sozialpädagog_innen mit ihren Patient_innen, wie behandelten sie, und wie dokumentierten und beschrieben sie Heilungsprozesse? In welcher Weise hatten umgekehrt Patient_innen Anteil an der Produktion von Heilungen? Wo und wie äußerten sie ihre Heilungserlebnisse?
Theoretische und methodische Entwicklungen wie der New Materialism, die Akteur-Netzwerk Theorie, der Ontological Turn und andere Entwicklungen wie die Narrative Medicine und das Distant Reading bieten die Gelegenheit sich dem Thema der Heilung und des Behandelns neu zuzuwenden. Praxeologische Forschungen, Objektgeschichten, narratologische Untersuchungen und Körpergeschichten bearbeiten neue Quellen wie Klinikbetten, Arzneimittellisten, Therapiepläne und Apparate oder entwickeln neue Blickwinkel auf alte Quellen wie die Patientenakte, den Medizinfilm oder die Dienstanweisung.
Davon ausgehend wollen wir nach der analytischen Reichweite und Trennschärfe des Begriffs der Heilung fragen. Wie unterscheidet er sich von anderen Termini wie ‚Remission‘ oder ‚Besserung‘ und welche Konjunkturen hatten diese verschiedenen Begriffe über die Zeit? Sind all diese Praktiken und (Be-)Handlungen unter dem Begriff ‚Heilungen‘ zu subsummieren? Welche konzeptuellen wie praktischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen Schleuderstuhl, Beschäftigung und Arbeit, Dauerbad, Chlorpromazin, Gesprächstherapie und Prozac? Welchen Anteil hatten Objekte/Dinge, Zeitregime, Raumordnungen und ritualisierte Handlungssequenzen an der Hervorbringung von therapeutischen Erfolgen? Zu welchem Ende und mit welchen Mitteln behandelten Psychiater eigentlich? Welche narrativen Ordnungen der erfolgreichen oder scheiternden Behandlung produzierten die Patientengeschichten? In welchem Verhältnis standen das Erzählen, Aufzeichnen, Abbilden, Therapieren, Begutachten und Entlassen?
Wir laden Wissenschaftler_innen ein mit uns dieses Bündel an Fragen zu sortieren und neue Forschungen zum historischen Behandeln und Heilen in der Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts vorzustellen und miteinander in produktive Diskussionen zu bringen. Ziel der Konferenz ist eine erste theoretisch reflektierte und periodenübergreifende Systematisierung der Theorie und Praxis des ‚Heilens‘ in der Psychiatrie von ihrer Gründungszeit bis zu den tiefgreifenden Reformen der 1970er Jahre.
Wir freuen uns darüber hinaus über Interventionen von medizinischen, ethnologischen, sozialpädagogischen oder pflegewissenschaftlichen Expert_innen. Wir wollen des Weiteren zu Beiträgen anregen, die sich auf innovative Weise mit den neuen theoretischen Herausforderungen auseinandersetzen, neue Quellenformen erschließen oder methodisch neuartige Wege gehen. Wir streben eine wissenschaftliche Publikation der Beiträge an.
Inhaltliche Schwerpunkte können sein:
- Begriffe zur Beschreibung von Behandlungserfolgen oder ‚Heilung‘
- Was beschrieb der Begriff ‚Heilung‘ zu unterschiedlichen Zeitpunkten?
- Was verstanden Ärzt_innen; Pflegepersonal oder Patient_innen jeweils unter ‚Heilung‘?
- Konkrete therapeutische Settings, die Behandeln und Heilen ermöglichen
- Wie entstanden therapeutische Innovationen in der Psychiatrie?
- In welchem Verhältnis standen Symptom, Krankheit und ‚Heilung‘?
- Verfahren der Registratur und Sichtbarmachung
- Welche Verfahren zur Feststellung von Heilung wurden angewendet?
- Wer stellte Heilungen fest?
- Wie entwickelten und wandelten sich Evaluationsverfahren und Evidenzbildung von therapeutischen Verfahren?
- Normen und Werte, die therapeutischen Versuchen und Feststellungen von Wirksamkeiten zugrunde liegen
- Welche Gesellschaftsvorstellungen, Menschenbilder und Fortschrittsnarrative beinhalteten die jeweiligen Heilungskonzepte und Therapieverfahren?
- In welchem Verhältnis stehen Konzepte von ‚Therapie‘ und ‚Heilung?
Vorschläge von Beiträgen zur Konferenz „Gebessert Entlassen. Heilen in der psychiatrischen Theorie und Praxis zwischen 1800 und 1970.“ erbitten wir in Form von Abstracts mit nicht mehr als 300 Worten bis zum 22. Dezember 2017. Die Vorträge sollen ca. 20 Minuten dauern und werden durch Expert_innen kommentiert und im Plenum diskutiert.
Bitte fügen Sie Ihrem Beitragsvorschlag ein kurzes CV und Ihre Kontaktdaten bei.
Eckdaten:
6. & 7. April 2018; Institut für Medizingeschichte Heidelberg, Kommissarische Institutsdirektion Prof. apl. Dr. med. Maike Rotzoll
Ansprechpartner:
Max Gawlich (max.gawlich@zegk.uni-heidelberg.de)
Ralph Höger (hoeger@heiedu.uni-heidelberg.de)