Verschiedene geisteswissenschaftliche Disziplinen haben in jüngerer Zeit ein intensives Interesse an der mediterranen Welt des Mittelalters und der frühen Neuzeit entwickelt. Dabei haben verschiedene Ansätze zu vielfältigen Neuperspektivierungen dieses Raums geführt. In der Geschichtswissenschaft wird das Mittelmeer nicht mehr als Grenze zwischen kulturellen Blöcken begriffen, sondern vielmehr als Zone komplexer, differenzierter und stets wandelbarer Verflechtungen unterschiedlicher Machtzentren, die sich in Relation und Konkurrenz zueinander positionieren und definieren (z.B. bei Horden/Purcell, Abulafia, Borgolte, Drews, Houben, Oesterle). Die Kunstwissenschaft hat auf zahlreiche Gemeinsamkeiten einer mediterranen materiellen Kultur hingewiesen (z.B. Grabar, Contadini, Dolezalek, Shalem). Das im Mittelmeerraum geografisch zentral gelegene Palermo, die Stadt Rogers II., bildete einen besonders einflussreichen Knotenpunkt dieser mediterranen Vernetzungen.
Doch ist das Mittelmeer nicht nur ein transkultureller Interaktionsraum der Akteure und Dinge, sondern auch der Sprachen und Literaturen, wofür Literaturwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler verstärkt Aufmerksamkeit reklamieren (z.B. Menocal, Mallette, Kinoshita, Gaunt).
Für die deutschsprachige Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ist der mit diesen Re-Orientierungen angezeigte neue Weg noch kaum beschritten worden. Dabei sind deutschsprachige Eliten spätestens ab dem 12. Jahrhundert, der Entstehungszeit der ‚klassischen‘ mittelhochdeutschen Texte, eng mit mediterranen Machträumen wie dem normannischen Sizilien, den italienischen Seerepubliken, Byzanz oder auch den Kreuzfahrerstaaten verknüpft. Zentrale Elemente imperialer Machtkommunikation – wie der Krönungsmantel der Kaiser, auf dem eine kufische Inschrift zu finden ist, oder der ‚Waise‘, der Leitstein der Kaiserkrone – stehen in Bezug zu mediterranen Praktiken der Repräsentation. Der Chronik Arnolds von Lübeck (und auch byzantinischen Quellen) zufolge kam es bei der Reise Heinrichs des Löwen ins Heilige Land (1172) zum Austausch mit Manuel I. Komnenos in Konstantinopel (der bereits 1164 eine Gesandtschaft nach Braunschweig schickte) und im Taurus auch mit dem Sultan der Rum-Seldschuken, Kılıç Arslan II., der Heinrich gar als einen Blutsverwandten begrüßt haben soll. Friedrich I. Barbarossa empfing 1173 über mehrere Monate hinweg eine Gesandtschaft aus Ägypten, um anschließend, im Jahr 1175, seinen Notar Burchard von Straßburg auf eine diplomatische Reise zu Ṣalāḥ ad-Dīn nach Kairo und Damaskus zu entsenden. Deutschsprachige Texte wurden in der Geniza von Kairo gefunden ('Dukus Horant') und manche machen eine angebliche transkulturelle, sprachübergreifende und mediterrane Genese zum Teil ihres poetologischen ‚Self-Fashioning’ ('Parzival').
Vor dem Hintergrund der genannten Aspekte wird eine spezifische Signifikanz des Mittelmeerraums und seiner Transkulturalität für die deutschsprachige Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit erkennbar. Die Sektion setzt es sich zum Ziel, diesen spezifischen Ort in seiner Verbindung zur deutschen Literatur in der Vormoderne erstmals unter transkulturellen Fragestellungen zu thematisieren und damit einen neuen Ansatz für eine transkulturell orientierte Germanistik zu erschließen. Die Sektion möchte dafür zwei Schwerpunkte setzen:
Zum einen wird es um die Frage nach der Verbindung des Mittelmeerraums und seiner vielsprachigen ‚Literaturen‘ (Arabisch, Griechisch, Hebräisch, unterschiedliche romanische Sprachen, Türkisch usw.) zur deutschsprachigen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gehen. Hier sollen transkulturelle Transferprozesse und die Wissensbewegungen, die sie bewirken, Gegenstand der Untersuchung sein – eine Perspektive, welche einer Praxis von Literaturgeschichtsschreibung, die nationalsprachlich oder rein europäisch verfährt, kritisch begegnet. Sind, mit Homi K. Bhabha gesprochen, nicht gerade ‚kulturelle Übersetzungen‘ Impulsgeber literarischer Innovationen?
Zum zweiten soll es um Darstellungsweisen und Funktionen des Mittelmeers innerhalb der Erzählwelten und der narrativen Struktur von Texten gehen. So ist das Mittelmeer in bestimmte Gattungen besonders präsent, wie dem Liebes- und Abenteuerroman oder im ‚spielmännischen‘ Erzählen. Aber auch einzelne Texte organisieren große Teile ihrer Handlung um mediterrane Schauplätze, wie etwa 'Herzog Ernst B', Rudolfs von Ems 'Der guote Gêrhart', der 'Jüngere Titurel' oder der 'Fortunatus'. Wie wird das Mittelmeer dargestellt bzw. gibt es überhaupt konkrete Darstellungen? Welche spezifisch narrativen Funktionen kommen dem Mittelmeer in diesen und anderen Texten zu? Welche Funktionen hat es mit Blick auf transkulturelle Transferprozesse? Sind Verschiebungen in unterschiedlichen Gattungen und/oder auf der diachronen Ebene zu beobachten?