Die Wahrnehmung und Bewertung religiöser Aktivitäten der Häftlinge in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ist von einer eigentümlichen Ambivalenz geprägt. Einerseits werden sie in Publikationen zur Geschichte der einzelnen Konzentrationslager meist nur wenig zur Kenntnis genommen. Andererseits erscheint in einem Großteil der Studien, die auf dieses Thema eingehen, das religiöse Leben in den Konzentrationslagern in idealisierender Weise als eine Subkategorie des Widerstands. Aber auch dies ist problematisch, denn die religiösen Aktivitäten in den Konzentrationslagern primär als Widerstandshandlung zu betrachten, wird der Eigenbedeutung der genuin religiösen Motive der jeweiligen Häftlinge nicht gerecht und führt tendenziell zu einer Enthistorisierung. Wenn die Darstellung religiöser Aktivitäten der Häftlinge in den NS-Konzentrationslagern dazu dient, die Unverletzlichkeit religiöser Werte und Normen, den Triumph von Religiosität über die Inhumanität zu belegen, dann ignoriert sie die grauenhafte Realität der Konzentrationslager, die nicht nur den Hintergrund dieses religiösen Handelns bildete, sondern es auch selbst prägte und veränderte. Notwendig ist somit eine differenziertere historische Analyse von Religiosität in den Konzentrationslagern, die neben einem sozialhistorischen Zugang auch genuin religionsgeschichtliche Fragestellungen in den Blick nimmt.
Dazu möchte die Tagung einen Beitrag leisten und zugleich das Spektrum der Forschungsthemen erweitern. Dazu gehört auch die Einbeziehung von Verfolgtengruppen wie z. B. den (überwiegend katholischen) Sinti und Roma, die in diesem Zusammenhang bisher kaum wahrgenommen worden sind. Darüber hinaus sollen auch Bedingungen und Formen religiösen Handelns in anderen nationalsozialistischen Haftstätten in den Blick genommen werden. Im Einzelnen soll sich die Tagung folgenden Fragen und Themen widmen:
Rolle der Gefangenenseelsorge in den NS-Haftstätten
Religiös definierte Minderheiten wie Quäker u. a. in den Konzentrationslagern und Haftstätten
Religiös-theologische Deutungen der NS-Verfolgung in den Memoiren von Überlebenden der Konzentrationslager
Die Amtskirchen und die inhaftierten Pfarrer und Priester
Christliche Feiertage in den Konzentrationslagern und anderen Haftstätten
Jüdische Feiertage in den Konzentrationslagern und anderen Haftstätten
Aspekte alltäglicher religiöser Praxis in den Konzentrationslagern
Geschlechtsspezifische Aspekte religiöser Praxis in den Konzentrationslagern
Ethisches Handeln als Dimension religiöser Praxis im KZ
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der NS-Verfolgung unter den Zeugen Jehovas nach 1945
Rezeptionsgeschichte zur religiös-politischen Verfolgung von Christen im Nationalsozialismus
Die Überlieferung religiöser Artefakte aus den Konzentrationslagern
Die religiöse Praxis orthodoxer/chassidischer Juden in den Konzentrationslagern
Die religiöse Praxis von Sinti und Roma in den Konzentrationslagern
Nationale Spezifika religiöser Praxis in den Konzentrationslagern
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auf der Tagung zu einem der umrissenen Themenbereiche einen Beitrag leisten möchten, sind herzlich zur Teilnahme und Mitwirkung eingeladen. Es ist geplant, einzelne Vorträge der Tagung in einem Themenheft der Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung“ zu veröffentlichen, dessen Erscheinen für 2020 vorgesehen ist.
Die Vorträge sollen den Charakter von Impulsreferaten haben, an die sich jeweils eine Diskussion anschließt. Wir bitten alle Interessierten, bis spätestens 10. März 2019 ein einseitiges Abstract ihres geplanten Vortrags (maximal 600 Wörter) sowie eine Kurzbiographie an sprute@ravensbrueck.de zu senden.
Die Benachrichtigung der ausgewählten Referentinnen und Referenten erfolgt bis 31. März 2019. Für Referentinnen und Referenten werden die Reise- und Übernachtungskosten übernommen.