Das gesellschaftliche Leben an den Höfen der Frühen Neuzeit habe ein „Doppelgesicht“, schrieb einst Norbert Elias: Da ein „Berufsleben“ nicht existierte, gab es noch keine Trennung zwischen privatem und öffentlichem Dasein im modernen Verständnis. Heute sind wir, so scheint es, erneut konfrontiert mit einer Aufweichung der Grenzen zwischen diesen beiden Sphären, die mit dem Wandel der sozialen Medien und einer Neudefinition des Raumes (spatial turn) einhergeht.
Angesichts dieser hochaktuellen Problematik lohnt es, das Thema aus der historischen Perspektive zu beleuchten. Was bisher in der Forschung unter „Privatheit“ diskutiert wurde, adressiert ganz unterschiedliche Verständnisse und Konzepte, die wir kritisch vergleichen, hinterfragen und systematisieren wollen. Damit ist es möglich, jenseits problematischer Forschungsbegriffe zu einem frühneuzeitlichen Verständnis dessen zu gelangen, was wir unter Privatheit fassen (können). Insbesondere für die höfische Kultur besteht Nachholbedarf, da die Diskussion bislang geprägt war von der eingangs angesprochenen, grundsätzlichen Infragestellung der Existenz höfischer Privatheit. Demgegenüber steht die Annahme eines anthropologischen Grundbedürfnisses nach Rückzug und Muße. Denn der stets gespannte Bogen reißt auch zu Hofe irgendwann. So betonte bereits Baldassare Castiglione im frühen 16. Jahrhundert die Notwendigkeit fürstlicher Entspannung. Zahlreiche Rückzugsräume zeugen von dieser Komplementarität von otium und negotium, von Repräsentation und Intimität, von Öffentlichkeit und Privatheit.
Die interdisziplinär ausgerichtete Tagung nimmt den soziokulturellen Raum des frühneuzeitlichen Hofes in den Blick. Hier sind höchst ausdifferenzierte Formen der Sichtbarmachung und Instrumentalisierung von Nähe und Distanz zu beobachten, die es als sinnvoll erscheinen lassen, von einer lediglich graduellen Opposition von privat und öffentlich auszugehen und so die dialektische Qualität des Begriffspaars beizubehalten. Handlungen, Räume und Darstellungen richten sich an eine von Fall zu Fall zu definierende, mehr oder weniger eingeschränkte Öffentlichkeit, und sie gestalten den höfischen ‚Nahraum‘, um Herrschaftsstrukturen zu stabilisieren, politische Ambitionen zu rechtfertigen etc. Diese Inszenierungen von Intimität, Nichtzugänglichkeit, Unverfügbarkeit, Exklusivität, Innerlichkeit, Luxus oder – im Gegenteil – Schlichtheit stehen im Zentrum der Tagung, die nach den individuellen (und zugleich strukturbildenden) Zielen, Adressierungen und Funktionsweisen von „Privatheit“ am Hofe fragt. Wer darf überhaupt (im oben erläuterten Sinne) privat sein, und wem nützt die Privatheit? Wen schließt sie wann und wie aus?
Einen Interessenschwerpunkt bildet die Performanz des Privaten, die sich innerhalb der Leerstellen des offiziellen Zeremoniells entfaltet. Sie verfestigt sich in Form von Räumen, Texten und Objekten (Miniaturporträts, abschließbare Möbel, Kleidung etc.), deren besondere Eigenschaften – Kleinheit, Verknappung, Enge, Verschachtelung – und Gebrauch sowie ihre Lage im innersten, geschützten Bereich zur körperlich-emotionalen Erfahrung höfischer Privatheit gehören. Gerade in der ambivalenten Sphäre höfischer Rückzugsorte entstehen schon im 16. Jahrhundert geistige und künstlerische Freiräume. „[S]olo in luoghi appartati e privati”, „nur in entlegenen und privaten Räumen“, so Gabriele Paleotti 1582, seien bestimmte Innovationen möglich. Ausgerechnet in der Enge und Abgeschiedenheit des Privaten wird in der mentalen Konzentration die intellektuelle Öffnung möglich.
Hinterfragt werden soll das Verhältnis der „verspielten Privatheit“, die Jürgen Habermas für den französischen Adel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts feststellte, zur „dauerhaften Intimität des neuen Familienlebens“. Denn Habermas’ auf die bürgerliche Öffentlichkeit bezogenes Konzept wurde zumindest im deutschsprachigen Raum längst von komplexeren Modellen abgelöst. Hypothetisch zu erwägen ist eine ‚Veradeligung‘ des Bürgertums, also die Übernahme adeliger Modelle durch das Bürgertum. Die gesellschaftlichen Umbrüche am Ende des Ancien Régime sollen deshalb noch mit in den Blick genommen, d.h. der Untersuchungszeitraum bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gefasst werden. Den Anfang bildet das 16. Jahrhundert mit der Residenzenbildung und der Ausdifferenzierung von Innenraumfolgen im Schloss, die als Handlungsräume die zeremonielle Bedeutung von Nähe und Distanz erfahrbar machen.
Erwünscht sind Beiträge aus allen Bereichen der Hofforschung und allen historischen Disziplinen. Mögliche Themenfelder sind:
- Informalität und Individualität
Welche Gestaltungsweisen konstituieren den informellen Raum, welche Regeln herrschen in ihm, wie wird (vermeintliche) Privatheit organisiert? Warum und mit welchen Mitteln wird das Private instrumentalisiert? Inwiefern können sich jenseits des Zeremoniells Individualität und Kreativität ‚frei‘ entfalten? Oder gibt es vielmehr einen ‚Kanon‘ des Privaten?
- Schutz und Sicherheit
Die Kleinheit und hintere Lage des Kabinetts, die verrätselte Sprache und Vertraulichkeit eines Briefes, die Abschließbarkeit eines Möbels: Welche Medien erzeugen Sicherheit, welche Mittel stellen diese her bzw. inszenieren sie, und warum muss das Private geschützt werden? Hat höfische Privatheit eine Schutzfunktion, wer profitiert davon, und was wird geschützt?
- Männlichkeit und Weiblichkeit
Gibt es spezifisch männliche, spezifisch weibliche Privatheit, und wie manifestiert diese sich jeweils? Inwiefern ist das höfische Frauenzimmer ein „privater“ Bereich? Ist das Weibliche ein Mittel der Inszenierung von Privatheit? Wie sieht im Gegensatz dazu weibliche Öffentlichkeit aus?
- Begriffsgeschichten und Definitionen
Wie wurde der Terminus „privat“ in der Frühen Neuzeit definiert? Was verstand die Zeremonialwissenschaft des 18. Jahrhunderts unter „Campagne Ceremoniel“? Was galt als ein Lustschloss, und wer hatte dort Zutritt?
Geplant sind Vorträge zu je dreißig Minuten. Nachwuchswissenschaftler*innen (Promovierende und Postdocs) werden ausdrücklich zur Bewerbung ermutigt. Einzureichen sind ein tabellarischer Lebenslauf mit Publikationsliste und ein kurzes Exposé (max. 3000 Zeichen inkl. Leerzeichen), das den Vortragsvorschlag darlegt und einen vorläufigen Titel nennt. Wir bitten um die Einreichung Ihrer Bewerbung (ein einziges pdf-Dokument!) bis zum 25. August 2019 an das Sekretariat des Instituts für Kunstgeschichte der JLU: Barbara.Stommel@kunstgeschichte.uni-giessen.de. Fragen beantworten wir gerne via kristina.deutsch@uni-muenster.de.