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Als vor zehn Jahren erstmals eine größere Aufmerksamkeit für die historische Einordnung der Zäsur 1989 zu erleben war, beklagte Timothy Garton Ash in der New York Review of Books das Fehlen einer globalgeschichtlichen Synthese.1 Einige Autoren und Herausgeber haben sich seitdem an Antworten auf diese Herausforderung versucht und die inzwischen entstandene Forschungslandschaft ist nicht mehr ganz so weißfleckig, wie dies 2009 erschien. Allerdings hat dies nicht unbedingt dazu beigetragen, eine Eindeutigkeit zu gewinnen, wo eigentlich 1989 stattgefunden hat. Eher im Gegenteil, die Bögen werden größer oder kleiner gezogen, und eine gemeinsame Debatte steht noch aus. Manche hielten und halten es für ein vorwiegend ost- und mitteleuropäisches Phänomen und verweisen auf die Initialrolle des Runden Tisches in Polen, den durchlöcherten Eisernen Vorhang an der ungarisch-österreichischen Grenze, an die Erhebungen von Prag bis Bukarest sowie den Zusammenbruch der Sowjetunion. Andere haben dagegen die weltweiten Folgen im Blick, die das Ende des Kalten Krieges vom südlichen Afrika bis zur Demokratisierungswelle in Mittel- und Südamerika zeitigte, und erörtern anhand der Widersprüchlichkeit von niedergeschlagenen Protesten auf dem Tiananmen-Platz und wirtschaftlichem Aufschwung in China die Anpassungsfähigkeit kommunistischer Parteien an die neue Weltlage. Aber was für eine Art von Einschnitt war 1989? Handelt es sich um einen dieser eher raren globalen Momente, die das Gedächtnis einer Generation über fast alle Kontinente hinweg formatieren, wie es für 1918 und 1945 der Fall ist, oder ist eher der Vergleich mit 1968 heranzuziehen, von dem schon zeitgenössisch Jürgen Habermas meinte, es sei das westliche Vorbild für die Vorgänge in Europas Osten? Oder gehört 1989 eher in die Kategorie von Ereigniskomplexen, die den Miterlebenden von größter Bedeutung erschienen, aber schon bald hinter der Strahlkraft von Folgeereignissen zurücktraten, wie man es vielleicht für 1956 feststellen kann?
Das dreißigjährige Jubiläum eines historischen Vorgangs wird von vielen Erforschern des kollektiven und des kulturellen Gedächtnisses als eine erste Wasserscheide angesehen, an der über den Platz in den künftigen Narrativen entschieden wird. Das Jahr 2019 lädt mithin ein, den Horizont über die Rekonstruktion lokaler und nationaler Ereignisse hinaus zu weiten und zu fragen, wo überall die Elemente eines eventuellen globalen 1989 zu suchen sind und was das mit unseren Rückblicken auf das womöglich kurze (Eric Hobsbawm) oder lange (Giovanni Arrighi) 20. Jahrhundert zu tun hat. Es ist zugleich eine Einladung für die Frage, wann genau „1989“ angefangen hat. Dass dies davon abhängt, was man alles unter dieser Chiffre subsumiert, versteht sich von selbst, aber ist deshalb gleich alles völlig beliebig und jeder kann seine eigenen Kriterien unwidersprochen entwickeln? Für solchen Relativismus waren die Folgen des Umbruchs von 1989 vielleicht zu gravierend. Dies ist in den letzten Jahren möglicherweise noch deutlicher geworden als es zuvor der Fall war. Protestbewegungen und geopolitische Neuentwürfe berufen sich gleichermaßen auf einen 1989 begonnenen Prozess – die einen beklagen die Nichtachtung ihrer transformatorischen Leistung, die anderen sehen Ursprünge eines neuen Multilateralismus oder gar des Aufstiegs eines neuen Hegemonialaspiranten für das pazifische Jahrhundert im Ende des Kalten Krieges. Es erscheint lohnend, in einer solchen Gemengelage einen Gedankenaustausch zum Thema anzuregen.
Der Aufstieg sogenannter populistischer Bewegungen und Regimes hat ebenfalls den Streit um die Bewertung der Zäsur 1989 angefeuert. Hat der Ruf „Wir sind das Volk“ etwas mit der Programmatik des Populismus zu tun oder handelt es sich um eine illegale Aneignung einer ehrenwerten historischen Erbschaft durch Verächter jeder Art von Emanzipation? Unterscheiden sich in dieser Frage die verschiedenen Populismen in Ost und West, wie sich die Reaktionen auf die Herausforderung des zu Ende gehenden Kalten Krieges vor dreißig Jahren unterschieden haben?
H-Soz-Kult lädt deshalb zu einem Themenschwerpunkt ein, der hoffentlich Fachleute aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Geschichtsschreibung zusammenbringt. Themenvorschläge reichen Sie bitte bis 1.12.2019 ein. Wir erwarten Artikel, die sich auf ein bestimmtes Argument konzentrieren und daher die Länge von 1500 Wörtern nicht überschreiten sollten. Bei redaktionellen Fragen wenden Sie sich bitte an Claudia Prinz unter prinzc@geschichte.hu-berlin.de und bei inhaltlichen Fragen an Matthias Middell unter middell@uni-leipzig.de.
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H-Soz-Kult Discussion Series on „Remembering 1989 in a global perspective“
Ten years ago, when greater attention was paid to the historical classification of the 1989 caesura, Timothy Garton Ash lamented in the New York Review of Books the lack of a global historical synthesis. Several authors and publishers have since sought answers to this challenge, and the research landscape that has emerged is not quite as white as it appeared in 2009. However, this has not necessarily helped to gain a convincing answer to the question where 1989 actually happened. On the contrary, the bows are drawn larger or smaller, and a joint debate is yet to be held. Some consider 1989 a predominantly East and Central European phenomenon and point to the initial role of the Round Table in Poland, the perforated Iron Curtain on the Hungarian-Austrian border, the uprisings from Prague to Bucharest and the collapse of the Soviet Union. Others, however, look at the worldwide consequences of the end of the Cold War from southern Africa to the wave of democratization in Central and South America, and discuss the adaptability of communist parties to the new world situation when comparing the contradictory nature of depressed Tiananmen Square protests and China's economic recovery. But what kind of caesura was 1989? Is it one of those rather rare global moments that shape the memory of an entire generation across almost all continents, as 1918 and 1945 did, or should we rather compare it with 1968, which Jürgen Habermas has contended to be the Western model for the events in Eastern Europe? Or does 1989 rather belong to the category of complex historical events which seemed to be of great importance to the fellow-survivors, but soon were outshined by the impetus of follow-up events, as one might argue for 1956?
The thirty-year anniversary of a historical process is considered by many researchers of collective and cultural memory as a first watershed to decide on the place of events in future narratives. The year 2019 invites us to broaden our horizons beyond the reconstruction of local and national events and to ask where the elements of a possible global 1989 are to be found and how it relates to the possibly short (Eric Hobsbawm) or long (Giovanni Arrighi) 20th century. It is also an invitation to ask when exactly "1989" started. It goes without saying that this depends on what is subsumed under this cipher, but is everything therefore completely arbitrary and anyone can develop his or her own criteria without contradiction? For such relativism, the consequences of the 1989 upheaval were perhaps too serious. This may have become even more apparent in recent years than it has been before. Protest movements and geopolitical redevelopments allude equally to a process begun in 1989 – some complain about ignoring their transformative action, others see origins of a new multilateralism, or even the rise of a new hegemonic aspirant for the Pacific century at the end of the Cold War. Given the current state of the debate, it seems worthwhile to stimulate an exchange of ideas on the topic.
The rise of so-called populist movements and regimes has also fueled the dispute over the assessment of the caesura in 1989. Does the revolutionary call "We are the people" have anything to do with the agenda of populism or is it an illegal appropriation of an honorable historical inheritance by despisers of any kind of emancipation? Is this a question that differentiates the various populisms in East and West as the reactions to the challenge of the ending Cold War differed thirty years ago?
H-Soz-Kult invites contributions to a debate that, hopefully, brings specialists of very different parts of historiography together. Please send your proposals for texts by December 1st, 2019. We expect articles that focus on a particular argument and should therefore not exceed the length of 1,500 words. Please contact Claudia Prinz at prinzc@geschichte.hu-berlin.de for any question regarding the editorial aspects of the issue and Matthias Middell at middell@uni-leipzig.de for content-related questions.
Anmerkung / Note:
1 Timothy Garton Ash, 1989!, in: The New York Review of Books (November 5, 2009), http://www.nybooks.com/articles/23232 (22.10.2019).