Innere Sicherheit, Kulturkampf, Demokratisierung? Der „Radikalenerlass“ von 1972 und seine Folgen bis in die Gegenwart

Innere Sicherheit, Kulturkampf, Demokratisierung? Der „Radikalenerlass“ von 1972 und seine Folgen bis in die Gegenwart

Veranstalter
Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Heidelberg
Veranstaltungsort
Internationales Wissenschaftsforum Heidelberg (IWH)
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2020 - 29.09.2020
Deadline
15.03.2020
Website
Von
Forschungsprojekt „Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, 68 und der ‚Radikalenerlass‘ (1968-2018)“, Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Heidelberg

An der Universität Heidelberg besteht seit August 2018 das Forschungsprojekt „Verfassungsfeinde im Land?“, das den „Radikalenerlass“ von 1972 und seine Umsetzung in Baden-Württemberg untersucht. Auf einer Tagung zu diesem Thema im Herbst 2020 soll der regionale Fall kontextualisiert und in die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik eingeordnet werden. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die in diesem oder verwandten Feldern arbeiten, sind eingeladen, im interdisziplinären Austausch Forschungsergebnisse zum von Bund und Ländern gemeinsam verantworteten Beschluss vorzustellen und zu diskutieren.

Der 1972 verabschiedete „Radikalenerlass“, der sich sowohl gegen linken wie rechten Radikalismus richtete, war von Beginn an eine umstrittene Maßnahme. Willy Brandt hatte ihn als Mittel einer „wehrhaften Demokratie“ verstanden, später bezeichnete er ihn als „kardinalen Fehler“ seiner Kanzlerschaft. Neu war die Idee der Abwehr von „Verfassungsfeinden“ nicht: Die Geschichte des Staatsschutzes reicht zurück bis in die Weimarer Republik. In der Bundesrepublik war bereits unter Konrad Adenauer 1950 ein nach ihm benannter Erlass verabschiedet worden – gerichtet war dieser gegen Staatsbedienstete, die Mitglied in (vermeintlich) verfassungsfeindlichen Organisationen waren. Zum Hintergrund der Maßnahme der SPD-geführten Regierung in den 1970er-Jahren zählte die Radikalisierung eines Teils der 1968er-Studentenbewegung. Aber auch der Druck durch die CDU und die von ihr geführten Landesregierungen im Zuge der politischen Konflikte um die „Neue Ostpolitik“ spielten eine Rolle.

Durch die eigentlich als Akzentuierung des bestehenden Beamtenrechts gedachte Maßnahme wurde es den Bundesländern möglich, Beamte, Angestellte und Bewerber des öffentlichen Dienstes auf ihre Verfassungstreue hin zu überprüfen. Damit sollte gewährleistet sein, dass als „Verfassungsfeinde“ geltende Personen nicht in den Staatsdienst eingestellt oder weiterbeschäftigt wurden. Schätzungen zufolge kam es in den Folgejahren zu mehr als 1,8 Millionen bis über 3,5 Millionen Fällen von Überprüfungen. Auslegung und Ermessensspielraum der Behörden in den einzelnen Bundesländern variierten dabei erheblich. Während die Bundesregierung bereits 1976 Neuregelungen verabschiedete und 1979 die „Regelanfrage“ zurücknahm, blieb sie auf Länderebene zunächst bestehen; in Bayern und Baden-Württemberg bis ins Jahr 1991. In Baden-Württemberg waren auf Grundlage des nach Innenminister Karl Schiess benannten Erlasses (1973) allein bis Ende 1978 rund 240.000 Bürgerinnen und Bürger einer Überprüfung unterzogen worden.

Für die Betroffenen, von denen viele bis heute um eine Rehabilitierung kämpfen, zeitigte der „Radikalenerlass“ weitreichende Folgen. Mittels der „Regelanfrage“ wurden beim Verfassungsschutz Informationen eingeholt, die zur Klärung der politischen Haltung dienen sollten. War es den Überprüften nicht möglich, bestehende Zweifel zu widerlegen, führte dies zur Nichteinstellung in den öffentlichen Dienst oder zur Entlassung. Besonders im Schuldienst, der Justiz, der Polizei und in anderen Bereichen der Verwaltung wirkte sich oftmals eine Ablehnung oder Entlassung auf die Erwerbsbiografie der Betroffenen wie ein „Berufsverbot“ aus. Das Vorgehen von Politik und Administration stieß in Öffentlichkeit und Medien auf massive Kritik – es bildeten sich zahlreiche Komitees und Initiativen. Die „Konstanzer Erklärung der hundert Professoren“ etwa verwies auf die „bittere historische Erfahrung gerade in Deutschland“, dass „die Bedrohung einer verfassungsmäßig demokratischen Grundordnung auch von staatlichen Bürokratien ausgehen kann.“ Tatsächlich waren die Gräben tief, die Befürworter, Betroffene und Gegner des Erlasses trennten.

Lange war diese Politisierung auch in der entsprechenden Forschungsliteratur wahrzunehmen. Erst in den vergangenen Jahren hat das Thema wissenschaftlich erneut Aufmerksamkeit erfahren (vgl. u.a. Rigoll 2013; Jaeger 2019). In Niedersachsen hat erstmals eine Kommission die Geschichte des „Extremistenbeschlusses“ für das Bundesland aufgearbeitet.

Die Tagung zum „Radikalenerlass“ von 1972 und seinen Folgen am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Heidelberg möchte in Anbetracht dieses fortbestehenden Forschungsbedarfs wie -defizits die „andere“ Demokratiegeschichte im Spannungsverhältnis von innerer Sicherheit und Kulturkampf sowie angesichts der Demokratisierungsversprechen der 1970er-Jahre in den Blick nehmen.

Vorschläge für Präsentationen können folgende Themenschwerpunkte behandeln:

- Geschichte des Staats- und Demokratieschutzes in Deutschland und Europa im 20. Jahrhundert

- Protest und Radikalisierung im Zuge der 1968er-Bewegung; staatliche „Antworten“ auf diese Entwicklung; Mentalitätswandel der 1960er- und 1970er-Jahre

- politischer Hintergrund des „Radikalenerlasses“ 1972

- politische und gesellschaftliche Reaktionen auf den Erlass seit den 1970er-Jahren bis heute

- administrative Umsetzung im föderalen Vergleich: Verlauf der Überprüfungen in verschiedenen westdeutschen Bundesländern

- Rolle des Verfassungsschutzes

- Folgen für Betroffene

Fahrt- und Unterbringungskosten für Referentinnen und Referenten werden übernommen.

Vorschläge für Vorträge von 20-30 Minuten Dauer werden mit einem kurzen Abstract (300 Wörter) zusammen mit einem CV (1 Seite) bis zum 15. März 2020 per E-Mail erbeten an:

Dr. Birgit Hofmann und
Stefanie Marx, M.A.
Lehrstuhl für Zeitgeschichte Prof. Dr. Edgar Wolfrum
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Grabengasse 3-5
69117 Heidelberg
E-Mail: Birgit.Hofmann@zegk.uni-heidelberg.de; Stefanie.Marx@zegk.uni-heidelberg.de

Programm

Kontakt

Dr. Birgit Hofmann

Grabengasse 3-5, 69117 Heidelberg

birgit.hofmann@zegk.uni-heidelberg.de