Seit der Öffnung der russischen Archive in den 1990ern hat die westliche Forschung zur russischen Stadtgeschichte einen wahren Boom erlebt. Wie Guido Hausmann dargelegt hat, waren dabei zunächst drei Hauptthemen der Beschäftigung mit russischen Städten festzustellen 1: Erstens wurde mit Schwerpunkt auf dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert anhand einer Reihe von Provinzstädten das Themenfeld „Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit“ untersucht; zweitens haben sich mehrere Arbeiten der Frage gewidmet, inwiefern die sowjetische Herrschaft zur Entstehung eines spezifischen Städtetyps, der „Sozialistischen Stadt“, beigetragen hat, und seit einigen Jahren sind drittens auch Städte in der nichtrussischen Peripherie des späten Zarenreichs und der Sowjetunion in den Fokus der Forschung geraten. Während die Forschung in diesen drei Bereichen bereits beachtliche Ergebnisse erzielt hat, hinkt die Beschäftigung mit dem Zeitraum vor 1860 noch weit zurück. Dies betrifft gerade auch das 18. Jahrhundert, das einen bedeutenden Wendepunkt in der russischen Geschichte markiert. Das Zarenreich stieg zu einer europäischen Großmacht auf und erfuhr enorme territoriale Erweiterungen, und auch im Inneren wandelte sich das Gesellschaftsgefüge signifikant. Dies spiegelt sich auch auf der Ebene der Städte wider: In dieser Zeit wurden so viele neue Städte gegründet wie nie zuvor, die bestehenden Städte wurden einem umfassenden Umbauprogramm unterworfen, und die ersten Ansätze zu einer Selbstverwaltung wurden etabliert. Doch trotz der Bedeutung dieser Epoche für die russische Stadtgeschichte hat sich die Forschung bisher auf den Sonderfall St. Petersburg konzentriert. Dies beginnt sich erst seit in jüngster Zeit zu ändern.
Unter den neueren Forschungsprojekten lassen sich mehrere Tendenzen beobachten: Zum einen fokussieren sie nicht mehr exklusiv auf die beiden Hauptstädte, sondern legen einen weiteren Fokus auf Städte an der Peripherie des Reichs. Auf diese Weise stellen sie St. Petersburg in den Kontext anderer Neugründungen wie auch historisch gewachsener Städte, um so ein umfassenderes Bild der russischen Städtelandschaft des 18. Jahrhunderts zu erlangen. Aufbauend auf den Erkenntnissen des imperial turn fragen sie danach, welche Bedeutung der multiethnische Charakter des Zarenreichs für die Entwicklung der Städte hatte. Zudem lösen sie sich von der einseitigen Orientierung der Forschung auf die Beziehungen Russlands zu Europa und ordnen die russische Städtelandschaft in vielfältige regionale und globale Netzwerke ein, wobei besonders der größere Schwarzmeerraum in den Fokus genommen wird. Sie arbeiten multidisziplinär und verbinden unterschiedliche Ansätze miteinander, darunter Kunstgeschichte, Technikgeschichte und Migrationsgeschichte. Von besonderer Bedeutung ist auch die Rückkehr der Wirtschaftsgeschichte in die Forschung zur russischen Stadtgeschichte. Hier dient die Beschäftigung mit der Stadt als Ausgangspunkt, um wirtschaftliche Abläufe auf der Mikroebene analysieren und gleichzeitig ihre globalen Verflechtungen identifizieren zu können.
Dieser Workshop führt mehrere aktuelle Forschungsprojekte zusammen, die innovative Ansätze zur Erforschung der russischen Städte des 18. Jahrhunderts verfolgen.
1: Guido Hausmann: Osteuropäische Stadt oder Stadt in Osteuropa? Ein Beitrag zur Diskussion um die ‚europäische Stadt‘ im 20. Jahrhundert. In: Thomas M. Bohn und Marie-Janine Calic (Hgg.): Urbanisierung und Stadtentwicklung in Südosteuropa vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. München / Berlin 2010, S. 29-66.