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In gegenwartsbezogenen politischen und akademischen Debatten ist das Spannungsverhältnis zwischen europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit und Migration ein brisantes Thema. Wie lässt sich das Versprechen sozialer Sicherung in Zeiten der Globalisierung aufrechterhalten? Ist Wohlfahrt nur in 'geschlossenen' Nationalstaaten mit rigidem Grenzschutz denkbar, oder ist Migration im Gegenteil notwendig zum Erhalt der Sozialsysteme? Inwieweit sind soziale Rechte ein Staatsbürgerprivileg, inwieweit und unter welchen Bedingungen stehen sie auch Zuwanderern zu? Solche Fragen werden aktuell heftig diskutiert. Weniger ist indes über ihre historischen Dimensionen bekannt. Zwar existiert eine reichhaltige Historiographie zur Genese moderner Sozialpolitik, ebenso zur Geschichte der Migration, und auch die Geschichte der Staatsbürgerschaft hat in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit gefunden. Doch sind dies drei mehr oder weniger getrennte Forschungsstränge geblieben: Es liegen erst wenige Studien vor, die fundiert untersuchen, wie die europäischen Wohlfahrtsstaaten in ihrer 'Keimphase' auf die Herausforderungen der Migration reagierten und welche Erfahrungen umgekehrt Migranten mit den sozialen Einrichtungen in ihren Gastgesellschaften machten.
An diesem Punkt setzt das DFG-Projekt "Die Grenzen des Wohlfahrtsstaats: Migration, Soziale Rechte und Ausweisung (1850-1933)" an. Ausgehend von der in der Historiographie vierfach vertretenen, aber wohl zu einfachen These, dass sich der Status von Ausländern mit dem Aufstieg nationaler Wohlfahrtsstaaten quasi spiegelbildlich zu den erweiterten Rechten der Inländer verschlechtert habe, untersucht es das Wechselverhältnis von Sozialpolitik und Arbeitsmigration mit Fokus auf die Jahrzehnte um 1900. Dabei geht es um nationale Diskurse und Rahmenordnungen, um konkrete administrative Praktiken auf lokaler Ebene, aber auch um die Anfänge zwischenstaatlicher Abkommen über die reziproke Behandlung der beiderseitigen Staatsangehörigen. Ziel ist eine transnational-europäische Geschichte der Auseinandersetzungen um die sozialen Ansprüche von Zuwanderern in der Entstehungsphase moderner Sozialstaatlichkeit.
Trotz seines transnationalen Ansatzes muss die Reichweite des Projekts indes notwendig beschränkt bleiben, sowohl in geographischer und zeitlicher Hinsicht als auch hinsichtlich der Aspekte von 'Wohlfahrt' und 'Migration', die einbezogen werden können. Der geplante Workshop will die Projektarbeit deshalb in größere Zusammenhänge einbetten und einen Austausch mit Forscher/innen, die an verwandten Themen arbeiten, in Gang setzen. Zur Teilnahme eingeladen sind sowohl Historiker/innen als auch Vertreter/innen von Nachbardisziplinen (Soziologie, politische Wissenschaften, Anthropologie, etc.), die zu den Interdependenzen von Migration und Sozialpolitik seit dem 18. Jahrhundert forschen. Obwohl der Schwerpunkt des Workshops auf der Entwicklung europäischer Wohlfahrts- und Migrationsregime liegen soll, sind auch Beiträge willkommen, die die Perspektive global erweitern. Und obwohl es primär um Migration im Wechselspiel mit 'moderner' Sozialstaatlichkeit geht, sind auch Frühneuzeithistoriker/innen angesprochen, die zum Verständnis von Kontinuität und Wandel im Übergang zur Moderne beitragen können.
Erwünscht sind Beiträge, die das Wechselverhältnis von Migration und Sozialpolitik z.B. mit einem der folgenden Ansätze untersuchen:
- Theoretische Reflektionen zu langen Entwicklungslinien
- Semantiken von Wohlfahrt, Zugehörigkeit und sozialen Rechten
- Vergleiche zwischen nationalen Wohlfahrts- und Migrationsregimen
- Fallstudien zu lokalen Konstellationen und Erfahrungen
- Fallstudien zu spezifischen Migrantengruppen oder spezifischen sozialpolitischen Feldern
- Fallstudien zu Umbruchsituationen, z.B. infolge von Kriegen oder Wirtschaftskrisen
- Transnationale Studien zur grenzüberschreitenden Koordination von Migrations- und Sozialpolitik
Der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Workshop wird vom 4. bis 5. März 2021 in den Räumlichkeiten von re:work in Berlin stattfinden. Für die Übernachtung wird seitens der Veranstalter gesorgt; auch Reisekosten können (beschränkt) erstattet werden. Sollten wegen der Covid 19-Pandemie noch immer Reiserestriktionen oder andere Einschränkungen für Präsenzveranstaltungen bestehen, wird eine teilweise digitale Veranstaltungsform erwogen. Die Konferenzsprache wird Englisch sein. Die Vorträge sollten 20 Minuten nicht überschreiten. Eine Publikation ist geplant.
Interessent/innen sind gebeten, Vorschläge für einen Beitrag mit Titel, einem Abstract von ca. 300 Wörtern und einem kurzen CV bis zum 15. September 2020 an beate.althammer@hu-berlin.de zu senden.
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In current academic and political debates, the tensions between European conceptions of the welfare state and transnational migration are a heatedly discussed issue. How can promises of social security be kept in times of globalization? Is welfare only feasible in 'closed' nation states with tight border controls, or is migration, to the contrary, necessary for sustaining welfare systems? To what extent are social rights a privilege of national citizens, to what extent, and under what conditions, are they also due to foreign immigrants? Such questions have become an explosive and intensely scrutinized subject. Much less, however, is known about their historical dimensions. There exists by now a rich historiography on the origins of modern welfare policies; migration history is flourishing too; and in recent years, the history of citizenship has attracted increasing attention. Yet, these have largely remained three separate fields of research. Few works have studied in detail so far how European welfare states dealt with the challenges of migration in their formative phase, and what experiences, in turn, migrants have made with the social services of their host societies.
The project "The Borders of the Welfare State: Migration, Social Rights and Expulsion (1850-1933)" is attempting to fill this gap. Taking as its starting point the frequently postulated, but probably too simplistic hypothesis that the status of aliens deteriorated inversely to the expansion of citizens’ rights with the emergence of modern national welfare states, it explores the interrelations of labour migration and social policies in the decades around 1900. The project compares national discourses and legal frameworks of various European countries, analyses concrete administrative practices at the local level, and looks at the beginnings of international agreements on the reciprocal treatment of citizens who moved across borders. The aim is to write a transnational European history of the negotiations over the social entitlements of migrants in the early days of modern welfare-state building.
Despite its transnational approach, the scope of the project is necessarily limited, in geographical and temporal terms as well as in terms of the aspects of 'welfare' and 'migration' it is able to take into account. Therefore, the planned workshop wants to open up its horizon by bringing together researchers who are working on related topics. Invited are historians, but also scholars from neighbouring disciplines (sociology, political sciences, anthropology, etc.) with a research interest in the interrelationships of migration and social policies from the eighteenth century to the present. Although the focus of the workshop will be on the evolution of European migration and welfare regimes, papers that offer extra-European perspectives are very welcome too. And although the focus will be on the impact of migration on 'modern' social policies and vice versa, also early modern historians are addressed who can help us to understand continuities and changes during the transition to modernity.
Possible approaches of papers that explore the interrelationships of migration and social policies include:
- Theoretical reflections on long-term developments
- Semantics of welfare, belonging and social rights
- Comparisons between national migration and welfare regimes
- Case studies on local constellations and experiences
- Case studies on specific migrant groups or specific sectors of welfare provision
- Case studies on periods of disruption, e.g. in the wake of wars or economic crises
- Transnational studies on the cross-border coordination of migration and social policies
The workshop is funded by the DFG (German Research Foundation) and will take place in Berlin from 4 to 5 March 2021 at the premises of re:work. The organizers will provide accommodation as well as (limited) reimbursement of travel expenses. Should travel restrictions or other impediments to on-site events due to the Covid-19 pandemic still be in force, we will consider switching to an, in parts, digital format. Presentations should not exceed 20 minutes. We plan to publish a selection of revised papers.
Please send proposals comprising a title, an abstract of about 300 words and a short CV, to beate.althammer@hu-berlin.de by 15 September 2020.