Als Gründungsmythos Europas setzte sich die Französische Revolution für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sowie die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ein, in einem aufklärerischen Sinne weltlich ausgerichtet, gegen die Religion (cf. Gehrke, Geschichtsbilder und Gründungsmythen, 2001; Ißler/Lohse/Scherer, Europäische Gründungsmythen im Dialog der Literaturen, 2019). Bereits in der Romantik nahm das Christentum in personalisierten Formen und durch die wiederentdeckte Schönheit seiner Künste erneut eine Schlüsselstellung ein (cf. Ernst/Geyer (Hg.), Die Romantik: ein Gründungsmythos der Europäischen Moderne, 2010). In der Gegenwart stellen für die meisten Europäer/innen Menschenrechte, Frieden, Respekt vor menschlichem Leben und Demokratie, unabhängig von religiöser Zugehörigkeit, die wichtigsten Werte dar. Und doch lässt sich im säkularisierten Europa ein intensives und auch konfliktträchtiges Interesse an der Religion feststellen: insbesondere seit der Konfrontation des „christlichen Abendlandes“ mit Migrationsbewegungen aus dem Globalen Süden, mit islamistischem Terror und der damit verbundenen Angst vor Radikalisierung.
Die Religionszugehörigkeit ist heutzutage in den romanischen Ländern unterschiedlich gewichtet: Während Frankreich als laizistische Wiege Europas par excellence weniger Christen als die Hälfte seiner Bevölkerung verzeichnet, so ist das Christentum in Italien, Spanien und Portugal deutlich vorrangig vertreten. Gerade diese südlichen Ränder Europas dienen meist als erste Anlaufstelle in den neueren Fluchtbewegungen über das Mittelmeer. Außerhalb Europas ist das Christentum hauptsächlich in ehemaligen Kolonien europäischer Mächte vorzufinden und ist somit auch Teil der gewaltbeladenen „Europa-Ideologie“, die die Europäer als „Herrenrasse“ auftreten und „andere Menschen und Kulturen herab[…]setzen“ ließ (Assmann, Der europäische Traum, 2018, 8). Das Christentum selbst ist nach wie vor von inneren Spaltungen gezeichnet, die mit der Reformation einsetzten und 1555 mit dem Augsburger Religionsfrieden einen vorläufigen, auf Toleranz zielenden Abschluss fanden; innerchristliche Konflikte spielten jedoch immer wieder tragende Rollen, so bspw. im Dreißigjährigen Krieg, der als europäischer Krieg gilt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich im Hinblick auf in der Gegenwart dringend geforderte europäische Identitätskonstruktionen die Frage, welches erkenntnisstiftende Potential der Auseinandersetzung mit Religion/en den Literaturen und kulturellen Ausdrucksformen der Romania zuzuschreiben ist: Welche Möglichkeiten der Verwurzelung und Vernetzung bringen religiöse Themen, Motive, Narrative und Archetypen für die pluralen Gesellschaften des heutigen Europas vor und welche Problematiken eben dieser Gesellschaften zeigen sie auf, vor allem auch im Hinblick auf den Umgang mit anderen Religionen und Glaubensformen? Aufgrund der postkolonialen Neustrukturierung der Romania ist für diese Auseinandersetzung sowohl der Blick von innen als auch derjenige von außen auf Europa gegeben und verspricht diversifizierte Perspektivierungen.
Entgegen politischen Verhärtungen und Diskriminierungen, die unter Berufung auf den vermeintlichen Schutz des „christlichen Abendlandes“ im Dienste nationalistischer Interessen stehen, bezieht die romanische kulturelle Produktion auch in diachroner Perspektive, nämlich seit ihren Anfängen im Spätmittelalter, das sich an den südlichen Rändern der Romania bereits im produktiven Austausch mit der arabischen Welt befand, dezentrierte, differenzierte Diskurse ein. So wurden im Namen des Christentums nicht nur Kreuzzüge unternommen und muslimische Reiche bekämpft, sondern die christlich geprägte Literatur brachte im Rückgriff auf den aus Nordafrika stammenden Heiligen Augustinus auch die Herausbildung des modernen Individuums hervor (Lee, Petrarch and St. Augustine: Classical Scholarship, Christian Theology and the Origins of the Renaissance in Italy, 2012). Den Kampf gegen die Sarazenen unter dem „Glaubenskrieger“ Karl dem Großen nutzten die romanischen Literaturen in ihrer ganzen Breite, um auf subtile Weise transkulturelle Formationen zu propagieren (cf. Rieger, Charlemagne und Jeanne la Pucelle. Zwei mittelalterliche Gründungsmythen im europäischen Kontext, 2011; Reichardt/Moll (Hg.), Italia transculturale. Il sincretismo italofono come modello eterotopico, 2019). Auch in der Gegenwart stellen sich vor dem Hintergrund der Migrationsbewegungen und Krisen insbesondere die Kulturschaffenden des südlichen Europas der Herausforderung, das kreative Potential neuer religiös-kultureller Hybridisierungen zu präsentieren, wobei christliche Themen und Motive durch andere Religionen wie z.B. den Islam ergänzt und kontrastiert werden oder durch auf die Antike zurückgehende heidnische Elemente sowie Kultformen ethnischer Minderheiten eine neue Authentizität erfahren. In der postkolonialen und in Migrationszusammenhängen entstehenden transkulturellen Literatur wird die in den Medien häufig mit Religionszugehörigkeiten assoziierte binäre Zuordnung von eigen und fremd, weiß und schwarz, europäisch und nicht-europäisch problematisiert und ironisch dekonstruiert. Thematisiert wird in diesem Zusammenhang auch der Traum von Europa als „gelobtem Land“, das sich in der Realität oft als Albtraum erweist.
Im Ausblick auf eine friedliche und wertorientierte Zukunft stellen sich u.a. die Fragen, was Europa heilig ist, auf welche Weise ein laizistisches Europa mit Religion/en umgehen sollte und was die Auseinandersetzung mit Religion/en in den Literaturen und Künsten der Romania in diachroner Perspektive an identitätsstiftendem Potential bereithält. Dabei muss vor allem auch eine Aufarbeitung der Gewalt unternommen werden, die Europas Geschichte in Bezug auf ein ausgrenzendes, kompetitives Religionsverständnis kennzeichnet, denn letztlich erscheint eine erinnerungskulturell fundierte Verwirklichung des europäischen Traumes (Assmann) nur auf dieser Basis möglich.
Erwünscht sind, um dem transversalen und interdisziplinären Charakter der Sektion Rechnung zu tragen, Beiträge zur Auseinandersetzung mit Religion/en in den Literaturen und kulturellen Ausdrucksformen der Romania von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Ebenso können die mediale Berichterstattung, der politische Diskurs oder die Auseinandersetzung mit religiös konnotierten Erinnerungsorten in den Blick genommen werden. Eine zeitnahe Publikation der Sektionsbeiträge ist geplant.
Leitung: Marina Ortrud Hertrampf, Eva-Tabea Meineke, Stephanie Neu-Wendel, Maria Giacobina Zannini
Wir freuen uns über die Zusendung von Beitragsvorschlägen (max. 600 Wörter inkl. Auswahlbibliographie) und kurze biobibliographische Angaben (max. 300 Wörter) bis zum 30.01.2021 an meineke@phil.uni-mannheim.de.