Historische Bildungsforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Forschungsgebiet entwickelt, das in seinen Themen, Methoden und theoretischen Bezügen vielseitig aufgestellt und interdisziplinär anschlussfähig ist. Arbeitstechniken und Methoden der Digital Humanities, die viele Bereiche der Geistes- und Kulturwissenschaften beeinflussen, finden allerdings noch wenig Anwendung. Obwohl sie innovative und wertvolle Impulse bereithalten, die weit mehr versprechen als einen bloßen Transfer von analog zu digital, gehen entsprechende Initiativen in bildungshistorischen Forschungsprojekten über explorative Ansätze und Erprobungen häufig nicht hinaus. Wichtige Ressourcen der Forschung stellen mittlerweile Archive, Bibliotheken und Forschungseinrichtungen bereit, die Quellensammlungen zu bildungsgeschichtlichen Themen erschließen und mit Hilfe digitaler Forschungsinfra-strukturen auch langfristig nutzbar machen. Die Reichweite des Digital Turn scheint dennoch begrenzt zu sein, denn für die Analyse und Interpretation digitalisierter Sammlungen bzw. digitaler Quellen werden zumeist noch keine intelligenten, computerbasierten Technologien hinzugezogen. Unter Digital Humanities sind keine spezifischen Methodenkomplexe zu fassen, sondern vor allem neue Arbeitstechniken und ein Reservoir digitaler Werkzeuge, mit denen Forschung rascher und effektiver gestaltet werden kann sowie komplexe Strukturen und Ergebnisse leichter dokumentierbar werden. Wenn auf diese Weise auch neue Ergebnisse ermittelt werden können, die durch analoge bzw. konventionelle Techniken wissenschaftlichen Arbeitens nicht erreichbar wären, werden Digital Humanities auch in forschungsmethodischer Hinsicht bedeutsam.
Vor diesem Hintergrund soll der Forschungstag „Digital Turn und Historische Bildungsforschung“ ein Forum für eine kritisch-konstruktive Bestandsaufnahme bieten, um aus aktuellen Forschungsprojekten zu berichten, in denen Arbeitstechniken und Methoden der Digital Humanities angewandt oder entwickelt werden. Es besteht die Möglichkeit, digitale Werkzeuge und Methoden exemplarisch (im Sinne von Best Practice-Lösungen) vorzustellen und über deren Nutzen und weitere Anwendungsfelder in der Historischen Bildungsforschung ins Gespräch zu kommen. Hierbei kann z. B. verwiesen werden auf digitale Editionen, Wikis, digitale Verfahren der Bild- und Netzwerkanalyse, der Einbindung geographischer Informationssysteme oder weiterer Techniken zur Visualisierung komplexer Zusammenhänge und Strukturen.
Davon ausgehend soll die Frage erörtert werden, welche Herausforderungen, Risiken und Chancen sich aus dem wachsenden Einsatz digitaler Verfahren für die Historische Bildungsforschung ergeben (Van Ruyskensvelde 2014). Welchen Mehrwert können sie bieten? Welche Veränderungen sind zu beobachten? Können perspektivisch Erwartungen eingelöst werden, Historische Bildungsforschung stärker analytisch als deskriptiv zu betreiben, wie es auch Möglichkeiten der Statistik schon seit einiger Zeit versprechen (Tenorth 2016)? Sicher ist, dass mithilfe digitaler Verfahren nicht nur serielle bzw. soziometrische Daten geliefert werden können, sondern eine größere Vielfalt komplexer Informationen, die vorhandenes bildungsgeschichtliches „Wissen“ herausfordern und zugleich einen kreativen Umgang mit möglichen Widersprüchen und Interferenzen einfordern (Priem/Fendler 2019).
Abstracts im Umfang von ca. 300 Wörtern für einen ca. 20-minütigen Beitrag werden neben einer kurzen biographischen Notiz per E-Mail erbeten bis spätestens 1. März 2021 an Andreas Oberdorf (andreas.oberdorf@uni-muenster.de). Eine Rückmeldung wird spätestens Ende März 2021 gegeben. Beiträge aus dem wissenschaftlichen Nachwuchs sind ausdrücklich willkommen, ebenso trans- und interdisziplinäre Impulse. Die Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch.
Im Anschluss an den Forschungstag werden die Beiträge als Sammelband im Verlag Julius Klinkhardt publiziert. Als Einreichungsfrist der vollständigen Beiträge ist der 15. Oktober 2021 vorgesehen.
Auswahlliteratur:
Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns, Version: 2.0. Docupedia-Zeitgeschichte [17.06.2019]. DOI: 10.14765/zzf.dok-1389.
Jannidis, Fotis/Kohle, Hubertus/Rehbein, Malte (eds.): Digital Humanities. Eine Einführung, Stuttgart 2017 (2. Aufl. 2021). DOI: 10.1007/978-3-476-05446-3.
König, Mareike: “Die digitale Transformation als reflexiver ‚turn‘: Einführende Literatur zur digitalen Geschichte im Überblick.” Neue Polit. Lit. [24.11.2020]. DOI: 10.1007/s42520-020-00322-2.
Nieländer, Maret/De Luca, Ernesto William (eds.): Digital Humanities in der internationalen Schulbuchforschung. Forschungsinfrastrukturen und Projekte, Göttingen 2018.
Priem, Karin/Fendler, Lynn: “Shifting Epistemologies for Discipline and Rigor in Educational Research: Challenges and Opportunities from Digital Humanities.” EERJ, 18 (2019), 5, 499–512. DOI: 10.1177/1474904118820433.
Schuch, Jane/Tenorth, Heinz-Elmar/Welter, Nicole: “Historische Bildungsforschung – Innovation und Selbstreflexion.” ZfPäd, 56 (2010), 643–647.
Schwandt, Silke (ed.): Digital Methods in the Humanities. Challenges, Ideas, Perspectives, Bielefeld 2020.
Tenorth, Heinz-Elmar: “Historische Bildungsforschung.” Handbuch Bildungsforschung, eds. Rudolf Tippelt/Bernhard Schmidt-Hertha, Wiesbaden 2016. DOI: 10.1007/978-3-531-20002-6_5-1.
Van Ruyskensvelde, Sarah: “Towards a History of e-Ducation? Exploring the Possibilities of Digital Humanities for the History of Education.” PH, 50 (2014), 6, 861–870. DOI: 10.1080/00309230.2014.955511.