Singularitäten. Theologie und Soziologie kontrovers

Singularitäten. Theologie und Soziologie kontrovers

Veranstalter
Dr. Joachim Werz & JProf. Dr. Wolfgang Beck
Veranstaltungsort
Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen / Haus am Dom, Frankfurt am Main
Gefördert durch
Bistum Limburg, Bistum Hildesheim, Bistum Fulda
PLZ
60599
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.04.2021 - 08.04.2021
Deadline
31.03.2021
Von
Joachim Werz, Professur für Kirchengeschichte, Fachbereich Katholische Theologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Mit seiner Gesellschaftsanalyse „Gesellschaft der Singularitäten“ hat der Soziologe und Leibnizpreisträger Andreas Reckwitz im Jahr 2017 eine markante und vielfach rezipierte Studie vorgelegt. Bislang fand seine Analyse, die auch zentral auf historischen Beobachtungen fußt, keine Berücksichtigung in der theologischen sowie kirchenhistorischen Reflexion.

Singularitäten. Theologie und Soziologie kontrovers

Auf einer Fachtagung, die vom Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik (Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen) sowie der Professur für Kirchengeschichte (Goethe-Universität Frankfurt am Main) organisiert und veranstaltet wird, werden Vertreter/innen unterschiedlicher Fachrichtungen, wissenschaftlicher Disziplinen und Konfessionen miteinander in einen Dialog über die Gegenwartsanalyse von Andreas Reckwitz und die theologischen, soziologischen und kirchlichen Effekte der von ihm identifizierten Entwicklungen treten. Gerade das breite Spektrum der gesellschaftswissenschaftlichen und theologischen Disziplinen, wie auch die Bandbreite wissenschaftlicher Generationen verdeutlicht, dass hier ein Anstoß zu weitergehenden Forschungen und Diskursen gegeben werden soll.

Andreas Reckwitz analysiert spätmoderne Gesellschaften, in denen ein in der Aufklärung und Neuzeit wurzelndes Phänomen des Individualismus zu dem zentralen Strukturelement der Gesellschaft avanciert. Aufgrund dieser expansiven Entgrenzung des Individualismus werden alle gesellschaftlichen Teilsegmente wie auch alle Bereiche der Biografieverläufe zu einem Feld der persönlich auszugestaltenden Identitätskonstruktion. In ihnen stehen alle (und alles) unter dem Anspruch, das Besondere des Eigenen zu markieren und die Einzigartigkeit des persönlichen Lebensentwurfs nachzuweisen. Diese Singularität erfordert eigene Narrative, um Lebensereignisse in die besondere Identitätskonstruktion integrieren zu können: die Erfahrung des Scheiterns wird zur Lernerfahrung, der Erfolg wird zur Zwischenstation, die Trauer zur spirituellen Phase. Die Mitgliedschaft in Vereinen, Parteien und Kirchen ist damit nicht nur eine Frage der Überzeugungen und des Bekenntnisses, sondern vorrangig der Kompatibilität zum eigenen Persönlichkeitsdesign.

Zugleich entsteht mit dem individuellen und kollektiven Konzept der Singularität ein Anspruch an die Einzelnen, der Erschöpfungs- und Überforderungsphänomene erzeugt: Aus der Erwartung größtmöglicher Authentizität aller Lebensvollzüge erwächst eine Suggestion des unbedingt Positiven, in der kaum Raum für Kompromisse und Mittelmäßigkeit bleibt. Aus der Entwicklung, die gerade seit den 1970er Jahren als Programm der Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen und bürgerlichen Normen firmierte, entsteht damit in der Spätmoderne das Paradox, sich selbst in einer „performativen Selbstverwirklichung“ als erfolgreich und glücklich darstellen zu müssen. So mutiert ein Befreiungsideal zunehmend zu einer Normvorgabe mit Überforderungslogik.

Für die wissenschaftliche Theologie, die sich mit den zentralen Selbstvergewisserungen des 20. Jahrhunderts in die Notwendigkeit von interdisziplinärem Austausch begeben hat und insbesondere von Soziologie und Gesellschaftswissenschaften Impulse erfährt, weil sie sich mit der Pastoralkonstitution des Zweite Vatikanischen Konzils (Gaudium et spes 1) in einer tiefgreifenden Solidarität mit ihren Zeitgenoss/innen verortet, ergeben sich mit der Gesellschaftsanalyse von Andreas Reckwitz wichtige Anregungen. So ist kulturgeschichtlich insbesondere in Neuzeit und Moderne nach den Wurzeln der beschriebenen Entwicklung zu fragen. Die für die Neuzeit charakteristische Entdeckung des Individuums ist in eine kulturgeschichtliche Entwicklung eingebettet. Deren massive Auswirkungen zeigen sich in der jüngeren Geschichte mit markanten, neuen Kollektivkonstruktionen, wie z. B. dem religiösen Konfessionalismus oder dem Denkmuster der nationalen Identität. Sie werden in scharfer Kontrastierung gegenüber dem neuzeitlichen und modernen Projekt des Individuums konzipiert, entwickeln zeitweise enorme Bindekräfte und zugleich massive, „toxische“ Übersteigerungen. Dies ist möglich, weil die moderne Gesellschaft noch von „Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung“ bestimmt ist, in denen sich die Handhabbarkeit des Lebens ausdrückt. Insbesondere in der Spätmoderne tritt an ihre Stelle die grundlegende Erfahrung der Unübersichtlichkeit.

In der kirchlichen Neubestimmung ihrer zentralen Sozialform nahm im 20. Jahrhundert die Gemeinde zunächst eine dominante Position ein. Mit der gemeindetheologischen Ausrichtung auf größtmögliche Vertrautheit der Beteiligten und einer erhofften generationsübergreifenden Kontinuität wurde jedoch schnell ihre strukturbedingte Inkompatibilität gegenüber modernen Gesellschaften und ihren Lebensstilen deutlich. Die Krise der Gemeinde und die Schwächen der Gemeindetheologie mit ihren immanenten Ressentiments gegenüber den Entwicklungen der Moderne und der individuellen Freiheitsrechte sind zwar unübersehbar geworden, jedoch ist an ihre Stelle bislang kein erkennbares Alternativkonzept getreten, in dem Moderne und Gemeinschaftsideal in tragfähiger Weise miteinander neu konstelliert werden.

Persönliche Religiosität und kirchliche Beheimatung sind dabei nicht nur zu einer Lebensgestaltungsoption neben unzähligen anderen geworden, sondern stehen für die Einzelnen auch unter der kritischen Anfrage, ob die angebotenen Sozialformen und Gemeinschaftskonzeptionen zu der persönlich ausgestalteten Besonderheit, zur eigenen Identitätskonstruktion kompatibel sind und darin eine Bereicherung darstellen. Gelingt diese Integration christlichen Glaubens und kirchlicher Vergemeinschaftungsangebote in die persönliche Identitätskonstruktion nicht, stellt ihr Abschied eine plausible Konsequenz dar. Daneben gibt es jedoch eine Vielzahl kreativer Ausgestaltungen der religiösen Praxis zu beobachten, in der Menschen die religiösen Traditionen fragmentieren und für die Integration ihrer Identitätskonstruktion kreativ anpassen. Sie sind damit Bestandteil einer häufig negierten und doch historisch zu analysierenden, dynamischen Ausgestaltung kirchlicher Reformprozesse. Christliche Theologie steht also gesellschaftlichen Entwicklungen und einem Programm der Singularität nicht beobachtend gegenüber, sondern ist selbst in ihren Mitgliedern und ihren institutionellen Ausformungen Teil dieser Entwicklungen. Deshalb hat sie ihre biblischen Fundamente und insbesondere deren Begründungskonzepte für Gemeinschaftsformen und deren normative Überhöhung je neu zu diskutieren. Sie hat ihre zentralen Vollzüge der Konstellation von Individuum und Gemeinschaft, etwa die der rituell-liturgischen Praxis, hinsichtlich beobachtbarer Konsequenzen zu befragen. Sie hat die moraltheologischen und sozialethischen Implikationen in einem durch Singularitäten geprägten Umfeld in ihrer eigenen Orientierung an dem befreiungstheologisch entwickelten Grundprinzip der „Option für die Armen“ zu reformulieren. Darüber hinaus wird mit den gesellschaftlich entstehenden Anfragen auch auf gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen zu schauen sein, die sich auch innerhalb des Christentums und seiner religiösen Vollzüge beobachten lassen.

Um Anmeldung zur Präsenzteilnahme wird bis zum 31.03.2021 unter der unten angegebenen Mail-Adresse gebeten. Die Tagung wird auch über den YouTube-Channel „Kirchengeschichte FB07 GU Frankfurt“ live gestreamt.

Programm

07.04.2021
10.00 – 10.15 Uhr Eröffnung der Tagung (Wolfgang Beck / Joachim Werz)

Sektion I: Singularität im Kollektiven
10.15 – 11.00 Uhr Thomas Söding, Bochum:
Personaler und ekklesialer Glaube. Neutestamentliche Eindrücke und Anstöße.
11.00 – 11.45 Uhr Wolfgang Beck, Frankfurt/M.:
Szenische Vergemeinschaftung – Grundzüge eines singularisierten Volkes Gottes?
11.45 – 12.30 Uhr Heike Delitz, Bamberg:
Gesellschaft der Singularitäten – Gesellschaft der Kollektive?
12.30 – 13.00 Uhr Diskussion, Moderiertes Zwischenfazit
13.00 – 14.00 Uhr Mittagessen

Sektion II: Die Sehnsucht nach dem Authentischen
14.00 – 14.45 Uhr Volker Leppin, Tübingen:
Mystik und Visionen als Singularitäten in der Frömmigkeitswelt des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit?
14.45 – 15.30 Uhr Christine Bischoff, Kiel:
Performanz und Authentizität in der Gesellschaft der Singularitäten:
das Beispiel religiöser Konversion
15.30 – 16.00 Uhr Kaffeepause
16.00 – 16.45 Uhr Kerstin Menzel, Berlin:
Religiöse Materialitäten – Singularisierungstheoretische Reflexionen gegenwärtiger kirchlicher Praxis.
16.45 – 17.15 Uhr Teresa Schweighofer, Berlin:
Freies Ritendesign

17.15 – 18.00 Uhr Gegenwartskultureller Einwurf:
Paul-Henri Campell, Frankfurt/M.:
God Ink. Die bunten Kathedralen des Selbst.
18.00 – 18.45 Uhr Moderierte Abschlussrunde der Sektion II
Anschließend Abendessen in freier Organisation
20.00 Uhr Abendvortrag: Andreas Reckwitz (vorläufige Zusage), im Haus am Dom

08.04.2021
Sektion III: Singularität und Wertvorstellung
9.00 – 9.45 Uhr Edeltraud Koller, Frankfurt/M:
Die Erfahrung von Einzigartigkeit als Selbstrealisierung. Prozesse der Singularisierung zwischen existenziellen Potenzialen und sozialen Ausschlusstendenzen
9.45 – 10.30 Uhr Sarah Rosenhauer, Frankfurt/M.:
Von der Emphase der Singularität in die Gesellschaft der Singularitäten? Eine Auseinandersetzung mit der dekonstruktiven Ethik der Singularität vor dem Hintergrund spätmoderner Subjektivierungspraxis
10.30 – 11.15 Uhr Ernst Henning Hahn, Bonn:
Massenware Authentizität? 'Der' alternative Lebensstil in den 70ern
11.15 – 12.00 Uhr Moderiertes Zwischenfazit Sektion III
12.00 – 13.30 Uhr Mittagspause

Sektion IV: Situative Praxeologie
13.30 - 14.45 Uhr Gregor Maria Hoff, Salzburg:
Offenbarung und Ereignis. Fundamentaltheologische Theoriebildung im Raum einer Gesellschaft der Singularitäten.
15.30 - 16.00 Uhr Benedikt Kranemann, Erfurt:
Gottesdienst und Authentizität. Die Gesellschaft der Singularitäten als Herausforderung für die Liturgie
16.00 – 16.45 Uhr: Joachim Werz, Frankfurt/M.:
Kirchliche Skandale in der Gesellschaft der Singularitäten
16.45 – 17.15 Uhr: Moderierte Abschlussdiskussion der Sektion IV
Anschließend Fazit – Ausblick – Tagungsabschluss (Wolfgang Beck / Joachim Werz)

Kontakt

Dr. Joachim Werz
Professur für Kirchengeschichte
Goethe-Universität Frankfurt / Fachbereich Katholische Theologie
Fachbereich Katholische Theologie
Norbert-Wollheim-Platz 1 (Campus Westend)
D-60629 Frankfurt am Main
werz@em.uni-frankfurt.de

https://www.uni-frankfurt.de/86761601/Kirchengeschichte
Redaktion
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Sprach(en) der Veranstaltung
Deutsch
Sprache der Ankündigung