Seit Ende des 19. Jahrhunderts nimmt die gesellschaftliche Bedeutung der öffentlichen Gesundheitspflege zu. Standen zu Beginn die Bekämpfung von Infektionskrankheiten und die Einführung grundlegender Hygienemaßnahmen im Zentrum, reklamiert sie heute für sich die Hoheit über weitreichende präventive Maßnahmen zur Beförderung des gesamten Wohlbefindens. Gerade die Corona-Pandemie zeigt, welch unterschiedliche Narrative, Ziele und Praktiken mit dieser Entwicklung verbunden sind. Die Ad-hoc-Gruppe setzt sich mit den Transformationen der öffentlichen Gesundheitspflege seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert auseinander. Sie baut thematisch auf der Zusammenarbeit zwischen Medizin und Soziologie im neugegründeten SFB 1454 „Metaflammation and Cellular Programming“ (seit Januar 2021) an der Universität Bonn auf.
Gesucht werden theoretisch und historisch orientierte Beiträge, die sich mit Gestalt, Funktion und Wandel der öffentlichen Gesundheitspflege im gesellschaftlichen Gesamtgeschehen beschäftigen. Hierbei können verschiedene geographische (USA, GB, GER, etc.), institutionelle (WHO, JHSPH, LSHTM, RKI, etc.), historische (Public Health, Sozialhygiene, New Public Health, Planetary Health, etc.) und theoretische Analyseschwerpunkte gesetzt werden. Wir interessieren uns besonders für die (bestehenden oder fehlenden) Zusammenhänge zwischen öffentlicher Gesundheitspflege und Kulturkritik, die z.B. in der deutschen "Sozialhygiene" noch im Vordergrund standen. So lehnte der Sozialhygieniker Carl Coerper (1886-1960) den Sozialstaat wegen der „sozialen Krebskrankheit“ der „Faulheit“ ab. Wir fragen uns dabei, welche kultur- und zivilisationskritischen Bezüge die öffentliche Gesundheitspflege in aktuellen Diskussionen zur Public Health und Global oder Planetary Health aufweist. In diesem Sinne findet etwa die Diskussion um die „obesity pandemic“ und mit ihr verbunden die Diskussion um die weltweit ansteigende Prävalenz der Zivilisationskrankheiten vor dem Hintergrund der Kritik des westlichen Lebensstils, der westlichen Ernährung und der Verwestlichung der Welt als Krankheitsrisikofaktoren statt.
In diesem Kontext ist auch eine Betrachtung der Unterschiede der „New Public Health“ von der „Old Public Health“ interessant, besonders in Bezug auf ihren jeweiligen Umgang mit der Globalisierung der Krankheiten sowie der öffentlichen Gesundheitsfürsorge und der zunehmenden Institutionalierung (insb. WHO) und Privatisierung (Rockefeller Foundation, Bill & Melinda Gates Foundation, etc.) der letzteren.
Weitere mögliche Themen sind die Verschränkungen der Öffentlichen Gesundheitspflege mit anderen sozialen und historischen Prozessen. Hierzu zählen:
- Die Koinzidenz der „New Public Health“ mit der „Public Relations“ Bewegung, in deren Zusammenspiel neue, überwiegend mediale Techniken der Verhaltensmodifikation zur Krankheitsprävention entwickelt wurden.
- Das Zusammenspiel der „Old Public Health“ und der Sozialhygienebewegungen mit den Kolonialisierungsbestrebungen des 19. Jahrhunderts und dabei die Untersuchung des (Bio-)Machtpotentials der öffentlichen Gesundheitspflege.
- Die Verbindung zwischen „Public Health“, „Sozialhygiene“, „Eugenik“ und „Rassenhygiene“ im 20. Jahrhundert – sowohl in Deutschland als auch in Italien, Spanien, Frankreich und den USA.