Schule ist in der Moderne mehrheitlich staatlich organisiert und zu ihren Funktionen zählt (in demokratischen ebenso wie in nicht demokratischen Staaten) die Integration Heranwachsender in die bestehende Gesellschaft und die Legitimation des bestehenden sozialen und politischen Systems. Von daher ist es naheliegend, dass ein politischer Systembruch, wie ihn die ehemals kommunistischen Staaten Europas 1989 erlebten, auch zu wesentlichen Veränderungen in der Schule führt.
Andererseits: Es besteht kein deterministischer Zusammenhang zwischen politischem System und Schule. Die Entwicklung des Schulsystems folgt auch einer Eigenlogik, die politische Veränderungen überlagert (Lundgreen 2003; Nath & Dartenne 2008). So lassen sich im Schulsystem oftmals Kontinuitäten über tiefgreifende politische Veränderungen hinweg beobachten (Kemnitz 2003; Kluchert 2003). Andererseits vollziehen sich Transformationen auch unabhängig von politischen Zäsuren. Zu denken ist etwa an die Bildungsexpansion, die in Ländern westlich des Eisernen Vorhangs seit den 1960er-Jahren zu einer weitgehenden Transformation von Schulsystemen führte, sich aber nicht mit einer politischen Zäsur wie der von 1989 in Ostmitteleuropa in Verbindung bringen lässt. Wenn politische Veränderungen Schulreformen auslösen, können diese wiederum eine ganz andere Entwicklung nehmen als geplant – sei es, weil die Reformpolitik selbst ihre ursprünglichen Vorhaben verändert, sei es, weil die Reformen andere Folgen zeigen als beabsichtigt. Kurzum: Zwischen Schule und politischem System besteht ein enger aber keineswegs trivialer Zusammenhang.
Vor diesem Hintergrund wird unsere Tagung neuerlich den Zusammenhang zwischen der politischen Zäsur von 1989 und dem Wandel des Schulsystems in den Staaten Ostmitteleuropas in den Blick nehmen. (Siehe dazu bisher etwa Anweiler et al. 1992; Anweiler 2013; Janík et al. 2020). Gut 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wollen wir eine vorläufige Bilanz über Veränderungen in Schulsystemen ziehen.
Wenn wir nach Veränderungen in Schulsystemen fragen, dann denken wir dabei selbstverständlich an Schulstrukturen und den gesetzlichen Rahmen für diese Schulstrukturen – aber nicht nur: zu fragen ist auch, wie sich jene Aspekte des Systems gewandelt haben, die sich durch solche Vorgaben nur sehr indirekt normieren lassen: Kulturen des Lehrens und Lernens, Formen der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, Selbstverständnis und Einstellungen der Beteiligten (Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Eltern,…).