Robert Michels‘ „Grenzen der Geschlechtsmoral“

Robert Michels‘ „Grenzen der Geschlechtsmoral“

Veranstalter
Harald Bluhm / Vincent Streichhahn, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Veranstaltungsort
Halle
PLZ
06108
Ort
Halle
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.03.2022 - 01.04.2022
Deadline
06.09.2021
Von
Vincent Streichhahn, Institut für Politikwissenschaft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Robert Michels steht in seinem eigenen Schatten als Klassiker der Parteiensoziologie. Kaum bekannt ist hingegen sein theoretisches sowie praktisches Wirken in der deutschen Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Anlässlich des 110-jährigen Jubiläums der in der Forschung weitgehend vergessenen Michels‘schen Schrift „Die Grenzen der Geschlechtsmoral“ möchte der geplante Workshop dazu anregen, einen aktualisierten, geschlechtersensiblen Blick auf das Leben und Wirken von Michels zu werfen.

Robert Michels‘ „Grenzen der Geschlechtsmoral“

„Die neue Geschlechtsethik, deren Sonnenball wir am Horizont bereits auftauchen sehen, deren Strahlen aber noch blaß und matt sind und noch nicht die Kraft haben, neues Leben zu spenden, hat ihre größte Gegnerin in der Heuchelei. Es ist zwar auch der vornehme, edeldenkende, reine Mensch, der sich heute noch vielfach gegen eine neue Ethik sträubt […]. Aber der heftigste Feind des neuen keimenden Lebens [...] sitzt da, wo sich Dunkel und Hell paart, im Clairobscur des sozialen Körpers, am Rande des Sonnenlichts und der Finsternis. Das sind die Elemente, die, insofern sie seelisch infekt sind, alles Interesse daran haben, alles beim alten zu lassen, weil ihr Mangel an Moralität mit der alten Moral sehr gut auskommt“ (Robert Michels 2021 [1911]: 65f.).

Das Zitat von Robert Michels stammt aus seiner 1911 erschienenen Essay-Sammlung „Die Grenzen der Geschlechtsmoral“, in der er sich als feministischer Mitstreiter der Frauenbewegung sowie sozialwissenschaftlicher Bewegungsforscher präsentiert, der für eine „neue Sexualmoral“ eintritt. Allerdings ist diese Seite von Michels theoretischen sowie praktischen Wirken in geschlechteregalitärer Absicht vor dem Ersten Weltkrieg kaum bekannt. Die „Grenzen der Geschlechtsmoral“ erschienen zwar 1911 in zwei Auflagen, sind aber bis zur kürzlich erschienenen Neuausgabe hierzulande nicht mehr neu aufgelegt worden. Auch seine Beiträge in verschiedenen Periodika der deutschen Frauenbewegung sind weitgehend vergessen.

Das liegt u.a. an einer verbreiteten einseitigen Rezeption von Michels Werk, die stark von dessen späteren Hinwendung zum italienischen Faschismus geprägt ist. Der Wahlitaliener steht in seinem eigenen Schatten als Klassiker der Parteiensoziologie, in dessen Parteienstudie der Weg zu einem autoritären Politikverständnis bereits vorgezeichnet sei. Die „Grenzen der Geschlechtsmoral“ sind im selben Jahr wie Michels „Soziologie des Parteiwesens“ erschienen und irritieren dieses einseitige Rezeptionsnarrativ grundlegend.

Anlässlich des 110-jährigen Jubiläums der in der Forschung weitgehend vernachlässigten Michels‘schen Schrift möchte der geplante Workshop Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen dazu anregen, einen aktualisierten, geschlechtersensiblen Blick auf das Leben und Wirken von Michels zu werfen. Wir rufen daher zur Einreichung von Beiträgen auf, die unterschiedliche Perspektiven und Zugänge auf den Forschungsgegenstand in vier Themenbereichen entfalten.

Beitragsvorschläge (max. 1 Seite) zusammen mit kurzem bio-bibliographischem Hinweis bitte bis 6. September 2021 an vincent.streichhahn@politik.uni-halle.de und harald.bluhm@politik.uni-halle.de

Workshop-Format: Angestrebt werden insgesamt 5 Panels mit jeweils zwei Referierenden. Diese haben beide 20 Minuten Zeit ihre Thesen darzustellen. Vor dem Workshop sind Thesenpapiere von max. 15.000 Zeichen einzureichen, die vorab unter den Teilnehmenden zirkulieren und die Grundlage für einen Kommentar von max. 10 Minuten pro Panel bilden.

Themenbereich I: Robert Michels im Kontext

Beiträge könnten nach Michels Engagement in der Arbeiter:innenbewegung und Frauenbewegung nach der Jahrhundertwende fragen und dieses in ein Verhältnis zu dessen Einsatz für eine „neue Geschlechtsmoral“ setzen. Ein anderer Ansatzpunkt wäre eine stärkere Verortung von Michels in der sich institutionalisierenden Soziologie, deren „Gründungsväter“ sich alle in gewissem Maße mit Geschlechterverhältnissen auseinandergesetzt haben. Mit einigen davon, u.a. seinem Mentor Max Weber, führte Michels längere Gespräche über Sexualität. Zuletzt bietet das in dieser Zeit entstehende Feld der Sexualwissenschaften, in dem sich Michels auch nach dem Weltkrieg einbrachte, eine Möglichkeit, Kontinuitätslinien über die „Grenzen der Geschlechtsmoral“ hinaus, zu verfolgen. Auf diesem Feld sind Bezugnahmen auf andere zeitgenössische Konzeptionen denkbar.

Themenbereich II: Perspektiven auf die „Grenzen der Geschlechtsmoral“

Hier ist der Kreativität von Perspektiven kaum Grenzen gesetzt. Diese können einerseits inhaltlicher Natur sein und sich einzelne Themen herausgreifen. Hierbei ist das Gebiet der Sexualmoral sicherlich das offenkundigste, aber die Essay-Sammlung und vor allem Michels anderweitige Publizistik zu Geschlechterthemen bieten eine Bandbreite von Themen (Sexualerziehung, Brautstandsmoral, Frauenstimmrecht, Geschlechterverhältnis, Prostitution). Andererseits können auch methodische Fragen in den Vordergrund gerückt werden. Etwa: Wie verhält sich Michels Analyse in den „Grenzen der Geschlechtsmoral“, die durch eine Mischung aus Klassenanalyse und kultureller Variation auf Grundlage von Beobachtungen gekennzeichnet ist, zu anderen sozialwissenschaftlichen Zugriffen seiner Zeit.

Themenbereich III: Die „Grenzen der Geschlechtsmoral“ im Wandel der Editionen

Der deutschen Edition der „Grenzen der Geschlechtsmoral“ folgten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine italienische (1912), französische (1914) und englische Edition (1914). Des Weiteren existiert eine spanische Edition, deren Veröffentlichungsjahr nicht bekannt ist, aber vermutlich auch in dieser Zeit angesiedelt ist. Analysen und Vergleiche der verschiedenen Editionen stehen bis heute aus. Es handelt sich nämlich keineswegs um reine Übersetzungen, sondern diese wurden von Michels jeweils überarbeitet. Dadurch sind die fremdsprachigen Ausgaben im Umfang deutlich größer. Bis auf die deutsche Edition sind auch alle Ausgaben in soziologischen Fachreihen erschienen. Dadurch veränderte sich teilweise der Adressatenbezug und normative Gehalt des Werkes. Diese Gemengelage der Editionen erlaubt eine Vielzahl an Fragestellungen.

Themenbereich IV: Perspektiven auf Michels‘ Gesamtwerk

Dieser Themenbereich ist für Blicke auf das Gesamtwerk von Michels oder ausgewählten anderen Teilen reserviert. Gefragt werden soll u.a.: In welchem Verhältnis stehen die geschlechtersensiblen Arbeiten bspw. mit Michels‘ Parteienstudie? Wie lassen sich Michels‘ geschlechteregalitäre Einstellungen mit seiner späteren Faszination für den italienischen Faschismus in Einklang bringen? Existieren hier paradoxe Kontinuitätslinien oder haben wir es mit Brüchen im Schaffen von Michels zu tun? Welchen Platz nimmt seine Beschäftigung mit der Moralstatistik in Sittlichkeitsfragen ein, die sich bereits in der ersten Schaffensphase andeutet und Ende der 1920er Jahre nochmals in einer Monographie gipfelt?

Literatur (Auswahl):
Bluhm, Harald/Krause, Skadi (Hg.): Robert Michels‘ Soziologie des Parteiwesens. Oligarchien und Eliten – die Kehrseiten moderner Demokratie, Berlin 2012.
Genett, Timm: Der Fremde im Kriege. Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876-1936. Berlin 2008a, S. 43-79.
– ders.: Robert Michels. Pionier der sozialen Bewegungsforschung, in: ders. (Hg.): Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung. Berlin 2008b, S. 11-69.
Geske, Hans: Oligarchie, Faschismus... Feminismus? Ein neuer Blick auf Robert Michels, in: Berliner Debatte Initial, Heft 3/2020, S. 99-109.
Kandal, Terry R.: From Egalitarian Sexual Ethics to Gender Politics. An Evaluation of Michels’ Contribution, in: Michels, Robert: Sexual Ethics. A Study of Borderland Questions. With a new introduction by Terry R. Kandal. London/New York 2002, S. xi-lxv.
Michels, Robert: Die Grenzen der Geschlechtsmoral. Prolegomena. Gedanken und Untersuchungen, in: Streichhahn, Vincent und Hans Geske (Hg.): Die Grenzen der Geschlechtsmoral und weitere Schriften. Robert Michels zu Sexualmoral und Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2021.
– ders.: Sittlichkeit in Ziffern? Kritik der Moralstatistik, Berlin 1928.
Streichhahn, Vincent: Robert Michels’ „Sexual Ethics“ between Women’s Movement, Social Democracy and Sociology. On the Discourse of the „New Sexual Morality“ in the German Empire, in: Mohammed, Jowan A./Jacob, Frank (Hg.): Marriage Discourses. Historical and Literary Perspectives on Gender Inequality and Patriarchic Exploitation. Berlin 2021, im Erscheinen.

Kontakt

vincent.streichhahn@politik.uni-halle.de
harald.bluhm@politik.uni-halle.de

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