Was sind bewahrungswürdige Überlieferungen? Woran erkennen Archivare heute, welche Bestände gesichert werden müssen, welche nicht? Welche Teile solcher Überlieferungen sind zu sichern, welche nicht?
Diese Fragen stehen unmittelbar im Zentrum des archivarischen Handelns. Erst in den letzten Jahren aber haben die Archive hier eine systematische Grundlagenforschung betrieben, um allgemeine Dokumentationsprofile zu erstellen, anhand derer sich die Arbeit ausrichten kann. Für bestimme Archivtypen sind bereits erste Arbeitshilfen für eine erfolgreiche Bestandssicherung formuliert worden, insbesondere für die Kommunalarchive, die bei ihrer Bundeskonferenz 2008 eine „Arbeitshilfe zur Erstellung eines Dokumentationsprofils für Kommunalarchive“ verabschiedeten.
Auch die Hochschularchive haben 2006 eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit dieser Frage befasste.
Für Kulturarchive gibt es eine solche Arbeitshilfe bislang nicht – sie wäre jedoch ein echtes Desiderat, gerade weil kulturelle Überlieferungen einem immensen Bedeutungswandel erleben: Zum Einen ist Kultur im gesellschaftlichen Kontext sehr viel wichtiger geworden, sie ist gewissermaßen omnipräsent auf verschiedensten Vermittlungsstufen – von der Kneipenlesung bis zum Mega-Event; damit verbunden ist auch eine gewachsene ökonomische Bedeutung des Sektors „Kulturwirtschaft“. Für die Archive ergibt sich aus dem fulminanten Anwachsen kultureller Äußerungsformen zwangsläufig ein Selektionsproblem.
Zum Anderen ändern sich auch die Inhalte kultureller Bestände nachhaltig: Die neuen Medien haben nicht nur zu einer Digitalisierung des Schriftguts, sondern auch zu einer generellen Diversifizierung der Bestandsinhalte geführt, die zunehmend visuelle und akustische Daten bergen.
Die Vorarbeiten aus dem öffentlichen Archivsektor liefern ein hervorragendes Beispiel auch für kulturelle Archive, die auf bestimmte Ergebnisse zurückgreifen können, die aber gleichzeitig den spezifischen Bedingungen kultureller Bestandsbildung angepasst werden müssen.
Die Tagung, ausgerichtet vom Rheinischen Literaturarchiv im Heinrich-Heine-Institut in Verbindung mit dem Westfälischen Literaturarchiv Münster, soll erste Schritte hin zu einer Definition eines eigenen Dokumentationsprofils für Kulturarchive formulieren.
Sicher wird es auch hier darum gehen müssen, als Erstes – quasi deduktiv – Dokumentationsziele zu ermitteln, denen die Entwicklung der Bestände Rechnung tragen sollte. Das bedeutet, man muss ermitteln, welche Überlieferungen gebraucht werden, um das jeweilige Dokumentationsziel zu erfüllen.
Da auch die Kommunalarchive in ihrer “Arbeitshilfe“ die Kultur als eine notwendige Kategorie der lokalen Lebenswelt auffassen, die es zu dokumentieren gilt , wird die Abgrenzungsfrage ebenfalls zu thematisieren sein: Welche kulturellen Überlieferungen gehören in ein Kommunal-, welche in ein spartenbezogenes Kulturarchiv (also Literatur-, Kunst-, Musikarchiv)?
Einen weiteren Diskussionspunkt stellt die Problematik digitaler Nachlassformen dar: Heute begegnet der Kulturarchivar an Stelle handschriftlicher Manuskripte und Briefwechsel digitalisierten Texten in verschiedenen Programmversionen und Email-Korrespondenzen, alles gesichert auf Festplatten oder anderen Speichermedien mit geringer Haltbarkeit, vom „Migrationsproblem“ veralteter Softwaretypen gar nicht zu reden. Vermehrt wird diese Schwierigkeit um die oben erwähnten audiovisuellen Daten, bei denen erheblich dringlicher zu klären ist, ob und wie lange diese noch abrufbar sein werden – bezogen auf Hardware ebenso wie auf Software.
Das hat Folgen für den „Wert“ solcher Überlieferungen – indem die Authentizität der Originalhandschrift verschwindet, müssen die Dokumentationsentscheidungen verstärkt inhaltlicher Natur sein. Das heißt, dass die Qualität eines Nachlasses nicht unbedingt mehr allein von der Bedeutung des jeweiligen Schriftstellers oder Künstlers, sondern mehr vom Informationswert des Bestandes abhängt. Wichtige Autoren können – nach Maßgabe ihrer eigenen sammlerischen „Sorgfalt“ – sehr wenig aussagekräftige Nachlässe bilden, dagegen können Nicht-Autoren (Journalisten, Multiplikatoren, Veranstalter) ungemein interessante Überlieferungen zeugen.
Die Fragen, die Wissenschaftler an kulturarchivarische Bestände stellen werden, dürften sich zudem in Zukunft sukzessive verschieben. Manches spricht dafür, dass private Überlieferungen zur Rekonstruktion geschichtlicher Ereignisse und Milieus in ihrer Bedeutung die Verwaltungs- und Regierungsüber¬lieferungen ablösen werden, da letztere zunehmend von Redundanz geprägt sind. Der Kulturarchivar muss daher diesem Bedürfnis in seiner Sammlungspolitik vorausschauend entsprechen und auch städtische oder regionale kulturelle Bestände einwerben, die in Zukunft mentalitätshistorisch oder soziologisch von Interesse sein könnten (womit umso mehr die Abgrenzungsproblematik zu den Stadtarchiven in den Blick kommt).
Die Tagung „Dokumentationsprofil kultureller Überlieferungen“ soll die inhaltlichen Vorbedingungen klären: Dazu werden Erfahrungsberichte von Archivaren kommunaler oder universitärer Institutionen präsentiert, die an der Ausarbeitung solcher „Dokumentationsdispositive“ beteiligt waren. Außerdem sollen Kulturarchivare verschiedener Sparten, also aus den Bereichen Kunst, Literatur und Musik über ihre jeweilige Übernahme- und Profilierungspraxis berichten. Auf Basis dieser Informationen sollen erste Gedanken formuliert werden hinsichtlich eines Modells, das Übernahmeprozesse systematisieren und bei der Entscheidung helfen könnte, welche Bestände (bzw. welche Teile von Beständen) überlieferungswürdig bzw. -unwürdig sind, welche allgemeinen Dokumentationsprofile Kulturarchive verfolgen müssen und welche nicht. Der gesamte Prozess – von der Nachlassübernahme über eine erste Sondierung, Vorordnung und Verzeichnung bis hin zur Nutzbarkeit – könnte so professionalisiert und beschleunigt werden. Ein Ergebnis der Tagung könnte sein, eine Arbeitsgruppe interessierter Kulturarchive zu gründen, die ein solches Dokumentationsprofil – analog zum Modell der Kommunalarchive – zu entwickeln versucht.