Infiziertes Europa. Seuchen in der Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Infiziertes Europa. Seuchen in der Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Veranstalter
Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Veranstaltungsort
Carl von Ossietzky Universität
Ort
Oldenburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.03.2012 - 24.03.2012
Deadline
07.08.2011
Von
Malte Thießen

Gemeinhin markiert das 20. Jahrhundert ein Ende der Seuchen. Tatsächlich jedoch machen das Auftreten von Pandemien von der "Spanischen Grippe" bis zur "Schweinegrippe" oder die Ausbreitung von AIDS deutlich, dass Infektionskrankheiten bis heute ein gravierendes Problem geblieben sind - und zwar auch in Europa. Diesem Problem möchte der Workshop in historischer Perspektive nachspüren. Für die Geschichts- und Kulturwissenschaften drängen sich Seuchen als Untersuchungsgegenstand geradezu auf, eröffnen sie doch zentrale Fragen für eine Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts: Wie gingen europäische Gesellschaften mit Seuchen um, welche Akteure nahmen in welcher Form den Kampf gegen Krankheiten auf? Was kann uns der Vergleich über soziokulturelle Kontexte kollektiver Ängste und über ihre kommunikative Aushandlung sagen? Welchen Anteil hatten die Medien am Umgang mit Seuchen, wie prägten sie die Wahrnehmung von Krankheiten und die Vermittlung gesundheitspolitischer und medizinischer Maßnahmen?

Während zur Seuchengeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert zahlreiche Forschungen vorliegen, sind viele dieser Fragen für die neueste Zeit bisher ohne Antworten geblieben. Auch in methodischer Hinsicht eröffnet die Seuchengeschichte des 20. Jahrhunderts ein weites Feld, das mit neuen sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen erschlossen werden kann. Auf dem Workshop sollen daher neue Forschungen zur Geschichte der Seuchen und Infektionskrankheiten im 20. Jahrhundert diskutiert werden, die Forschungslücken schließen und "neue Wege in der Seuchengeschichte" (Martin Dinges) beschreiten.

Die Potentiale dieser neuen Wege lassen sich an sechs Perspektiven verdeutlichen, die von den ReferentInnen auf dem Workshop verfolgt und diskutiert werden sollten:

1) Seuchen als Seismographen des Sozialen: Seuchen und Infektionskrankheiten eröffnen ein Forschungsfeld, auf dem sich das Verhältnis von Gesellschaft, Milieus und Individuen vermessen sowie Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren analysieren lassen. Massenkrankheiten geben zudem Anlass zu sozialer Exklusion und Inklusionen. Im heuristischen Sinne lässt sich das Auftreten von Seuchen daher als sozialer "Stresstest" verstehen, der neue Einblicke in die Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts verspricht.

2) Seuchen als Geschichte der Gefühle: Krankheiten fungieren als Emotionen-Katalysatoren, sie verstärken tradierte kollektive Ängste oder bringen neue hervor. Seuchen sind daher ein Untersuchungsgegenstand, an dem Prozesse kollektiver und individueller Sinnstiftungen fassbar werden. Diese kommunikativen Aushandlungsprozesse sind keineswegs nur Diskurs, sondern motivieren soziales Handeln. Auch Ängste vor Seuchen, so lässt sich mit Ute Frevert formulieren, "machen Geschichte" und "haben Geschichte".

3) Infizierte Räume: Seuchen sind überregionale Phänomene. Doch wann und wie wird ein globales Ereignis zu einem lokalen Problem? Das Schlagwort von der Glokalisierung wird seit einiger Zeit v.a. als Anreiz verstanden, globalen Prozessen im Lokalen nachzuspüren und lokale Vernetzungs-Prozesse unter dem Einfluss weltweiter Phänomene zu beschreiben. Der Workshop möchte diese und weitere räumliche Dimensionen von Seuchen erörtern, um Formen und Funktionen medikaler Räume zu beschreiben.

4) Seuchen in den Medien: Im 20. Jahrhundert wandern Bilder und Berichte von Krankheiten über Zeitungen, Radio, Fernsehen und das Internet durch europäische Öffentlichkeiten. Für diese Zeit wäre daher nach dem Zusammenhang von Medialisierung und Medikalisierung Europas sowie nach den Formen und Folgen medialer Inszenierungen zu fragen: Welche Deutungstraditionen wurden von den Medien aufgegriffen, welche Erklärungsmuster verbreitet und was für Auswirkungen hatten diese?

5) Vergleichs- und Beziehungsgeschichten: Für die europäische Geschichte ist die historische Komparatistik en vogue, doch was bringt der Vergleich für die Erforschung von Krankheiten? Auf dem Workshop soll es in diesem Zusammenhang auch um eine Identifizierung und Differenzierung verschiedener Vergleichsebenen gehen: Nicht nur Länder, sondern ebenso Regionen, Städte oder Institutionen lassen sich gegenüberstellen und damit Wechselwirkungen zwischen Makro- und Mikroebene analysieren, die ein neues Verständnis für die soziokulturelle Dimension von Seuchen fördern.

6) Seuchen in der Zeitgeschichte: Die Auseinandersetzung mit Krankheiten in der neuesten Geschichte hat methodische Konsequenzen. Wie geht man mit zeitgeschichtlichen Quellen (Zeitzeugen-Interviews, neuen Medien) für die Seuchengeschichte um? Welche Potentiale bieten Berührungspunkte zwischen Zeitgeschichte, Politik- und Sozialwissenschaften bei der Erforschung von Infektionskrankheiten? Und welche Probleme birgt die zeitliche Nähe zwischen Zeithistorikerinnen und Zeithistorikern und den von ihnen beschriebenen Krankheiten?

Vorschläge für Vorträge - in deutscher und englischer Sprache - aus allen geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen sind willkommen. Eingeladen sind sowohl NachwuchswissenschaftlerInnen als auch Post-Doc- und habilitierte ReferentInnen, die einen Beitrag zur europäischen Seuchengeschichte des 20. Jahrhunderts leisten möchten. Eine Übernahme der Reise- und Übernachtungskosten sowie eine Veröffentlichung der Beiträge sind geplant.

Über Vortragsvorschläge von ein bis zwei Seiten mit einem abstract zum Vortrag und einem kurzen CV freut sich per E-Mail:

Jun.-Prof. Dr. Malte Thießen
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Institut für Geschichte
Ammerländer Heerstraße 114-118
26129 Oldenburg
m.thiessen@uni-oldenburg.de

Programm

Kontakt

Malte Thießen

CvO Universität Oldenburg
Institut für Geschichte
Ammerländer Heerstraße 114-118
26129 Oldenburg

m.thiessen@uni-oldenburg.de

http://www.staff.uni-oldenburg.de/m.thiessen/