Arbeitstagung der Sektion Soziologische Theorie
In zahlreichen Einführungen sowie der jüngeren theorievergleichenden Diskussion wird die Position vertreten, dass sich die verschiedenen Paradigmen der Soziologie auf einen Nexus gleichlautender Fragen zurückführen lassen: Aus welchen Einheiten setzt sich das Soziale zusammen? Wie stabilisiert und wandelt sich Gesellschaft? In der Kontroverse über diese Themenkomplexe zeigt sich die Einheit der Disziplin, die lähmende »Multiparadigmatase« verschwindet.
Das spezifische Erkenntnisinteresse der einzelnen Konzepte gerät jedoch aus dem Blick. Theorien entstehen nicht aufgrund abstrakter Modellierungsfragen, sondern sie nehmen ihren Ausgang von gesellschaftlichen Problemlagen. Sie adressieren, beschreiben und inszenieren einen konkreten Ausschnitt der sozialen Welt, der ohne ihre Hilfe unsichtbar oder unverständlich bliebe. Im analytischen Zentrum vieler Theorien steht eine unverwechselbare »Gründungsszene«, ein reales Bezugsproblem, das die Theoriebildung motiviert, anleitet und erdet. Gründungsszenen sind also empirisch prägnante Miniaturen soziologisch virulenter Fragen und Phänomene.
Die Arbeitstagung zielt auf die Markierung und Entfaltung solcher Schaltstellen und macht sie zum Ausgangspunkt einer interparadigmatischen Diskussion. Das zentrale Konzept der Gründungsszenen soll dabei in zweifacher Weise diskutiert werden:
- Als werkgeschichtliche Ausgangsprobleme fokussieren und begrenzen sie den theoretischen Blick und stellen so die Weichen für terminologische und methodische Folgeentscheidungen. So beschreibt etwa Bourdieu die Einschreibung des Sozialen in die Akteure als konfliktgeladenen Prozess innerhalb des sozialen Raums. Luhmanns Konzept der doppelten Kontingenz verortet den Beginn sozialer Dynamik in einer konkreten Situation wechselseitiger Unsicherheit. Und Goffman entwickelt seine identitäts-theoretischen Überlegungen entlang konkreter Szenen: Im Fall der individuellen Iden-titätsbehauptung als geglücktes Spiel, im Fall der Konfrontation des Einzelnen mit totalen Institutionen als inszenierte EntIndiviualisierung.
- Begründungsszenen fungieren aber nicht nur als erkenntnisleitende Ausgangspunkte, sie können Theorien auch in Rückschau plausibilisieren. Mit der Konstruktion von Begründungsszenen lässt sich die Leistungsfähigkeit einer Theorie ex post demonstrieren, die Bereitstellung konstitutiver Anwendungsfälle verdeutlicht ihren Mehrwert bei der Lösung anstehender Probleme. Rational-Choice-Theorien zeigen die Evidenz ihrer Modellierungen anhand von dilemmatischen Spielsituationen, Foucault findet die Strukturen der Disziplinargesellschaft in der Architektur moderner Institutionen und Latour rekonstruiert die ANT als Antwort auf die explosionsartige Vermehrung von Monstren und Hybriden.
Im Rahmen der Arbeitstagung wollen wir der Wirkungsweise von (Be-)Gründungsszenen in verschiedenen soziologischen Theoriearchitekturen nachgehen. Wir wünschen uns insbesondere Beiträge zu den folgenden Diskussionssträngen:
1.) Der Tagungsschwerpunkt liegt bei der Identifikation zentraler Gründungsszenen der Soziologie. Dabei wollen wir ein möglichst breites Spektrum klassischer und zeitgenössischer Positionen abdecken ohne einen Kanon oder konkrete AutorInnen vorzugeben. Welche fundamentalen Intuitionen und Beobachtungen werden zum Ausgangspunkt weitreichender theoretischer Konzepte? Welche Probleme, Grundmotive, Impulse theoretischer Perspektiven lassen sich zu Gründungsszenen verdichten?
2.) Mit welchen Vorentscheidungen ist die implizite oder explizite Zentralstellung einer bestimmten Gründungsszene verbunden? Inwiefern sind Gestalt, Vokabular, Reichweite und Anschlussfähigkeit einer Theorie davon betroffen? Weshalb spricht heute kaum noch jemand über Parsons, während Simmel, Mead oder Goffman plötzlich in aller Munde sind? Lassen sich solche Konjunkturen auf die jeweiligen Gründungsszenarien zurückführen?
3.) Ist das analytische Konzept der Gründungsszene dazu geeignet, die Optionen und Grenzen einer theoretischen Perspektive genauer zu erfassen als das bisher der Fall ist? Sind vertiefte Einsichten darüber möglich, wann ein theoretisches Instrumentarium in Konfrontation mit welcher empirischen Wirklichkeit scheitert bzw. reüssiert? Lässt die Entzifferung primärer Bezugsprobleme eine exegetisch fundierte Aussage über Geltungsansprüche und –grenzen der Theorie zu?
Der Schwerpunkt des Workshops soll auf der gemeinsamen Diskussion liegen, das bedeutet für den Ablauf der Veranstaltung:
- Vorträge in Form kurzer Statements von max. 5 min., damit für die anschließende gemeinsame Diskussion genügend Zeit (ca. 30 min.) gesichert ist;
- zur Förderung eines konstruktiven Dialogs wird jede/r Vortragende gebeten, zwei Wochen vor der Veranstaltung ein 3-5seitiges Papier zu erstellen, das zuvor an alle Teilnehmer/innen der Tagung verschickt wird und als Diskussionsgrundlage dient.
Vorschläge für Beiträge im skizzierten Themenspektrum (max. 1 Seite) bis:
1. Oktober 2011
an Sina Farzin (farzin@uni-bremen.de) oder Henning Laux (henning.laux@uni-jena.de)