Ausgehend von dem Befund, dass Parteiengeschichte seit vielen Jahren in Deutschland kaum noch betrieben wird (also als „unsexy“, langweilig oder karriereschädlich gilt), plädiere ich dafür, dass man sich erneut der Parteiengeschichte des 20. Jahrhunderts zuwenden soll, und möchte 2013 ein entsprechendes Forschungsprojekt beantragen.
Dieses Projekt soll anhand einer Analyse der Organisation, gesellschaftlichen Basis, sozialen Herkunft der Mitglieder und Funktionäre, Führungsstruktur und Entscheidungsprozesse in Massenparteien des 20. Jahrhunderts einerseits Aufschlüsse geben über den allgemeinen Charakter von Parteien im Zeitalter der Massenpolitik und der Fundamentalpolitisierung sowie andererseits über spezifische Unterschiede etwa zwischen demokratischen/undemokratischen, linken/rechten, deutschen/italienischen usw. Parteien. Im Mittelpunkt des geplanten Projekts sollen Parteien stehen, die eine hohe Zahl von Mitgliedern (mindestens 100.000) organisierten und verwalteten und die möglichst lange, also unter verschiedenen politischen Rahmenbedingungen existiert haben. Der Untersuchungszeitraum sollte sich jeweils über große Teile des 20. Jahrhunderts erstrecken.
Besonders interessant erscheint mir die Zeit 1910 bis etwa 1980.
Parteien, die diesen Kriterien entsprechen, sind etwa die SPD, die Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ), die NSDAP (obwohl sie nur gut 20 Jahre existierte) der Partito Nazionale Fascista und seine Nachfolgeorganisation MSI, der Partito Popolare Italiano (PPI) und seine Nachfolgeorganisation Democrazia Cristiana, die Labour Party oder auch die US Democrats.
Das übergreifende Erkenntnisinteresse zielt darauf ab, ob es spezifische Entwicklungspfade in der modernen Parteiengeschichte gab. Haben alle modernen Massenparteien ähnliche Strukturen? Oder dominieren jeweils landesspezifische oder politische (demokratische vs. autoritäre/ sozialdemokratische vs. faschistische) Besonderheiten? Dabei geht es nicht um die Programmatik, sondern der Fokus richtet sich auf Organisationsstrukturen, Mitgliederverwaltung, Alimentierung der Funktionäre etc. Welche Verfahren entwickelten moderne Massenparteien in verschiedenen Ländern und unter verschiedenen politischen Rahmenbedingungen zur Regelung interner Konflikte (Parteigerichtsbarkeit, Ausschlussverfahren)? Woher kam das Parteivermögen, wie wurde es verwaltet, akkumuliert und in unterschiedlichen Phasen mit welchen politischen Zielen eingesetzt? Ist die heute unisono beklagte Vetternwirtschaft ein Symptom saturierter Parteistrukturen?
Neben solchen eher klassischen sozial- und parteiengeschichtlichen Fragestellungen, die gleichwohl für die genannten Parteien nicht systematisch erforscht und dargestellt sind, erscheinen auch eher kulturgeschichtliche Fragen interessant. Wie ließ sich etwa das Konzept einer lebenslangen Parteimitgliedschaft („von der Wiege bis zur Bahre“) mit den unterschiedlichen politischen Interessen verschiedener Generationen vereinbaren? Wie gelingt es einer modernen Massenpartei (Volkspartei), die unterschiedlichen Interessen verschiedener sozialer Gruppen in der Mitgliedschaft zu integrieren? Wie lassen sich Widersprüche zwischen Gruppeninteressen und dem Parteiprogramm (der „Parteilichkeit“) harmonisieren? Wie gestaltete sich das (schwierige) Verhältnis zwischen Funktionären und einfachen Mitgliedern? Wie wurden die unvermeidlichen Konflikte zwischen beiden Gruppen beigelegt?
Der Workshop soll zu einer Bestandsaufnahme der Parteigeschichtsschreibung in international vergleichender Perspektive dienen, neue Fragen aufwerfen, Austausch über Quellenbestände ermöglichen und die Vernetzung von Historikern verbessern, die in Deutschland und Italien an einer neuen Parteiengeschichte interessiert sind.
Alle interessierten Forscherinnen und Forscher sind herzlich eingeladen. Um eine Anmeldung wird gebeten unter chjansen@wwu.de .