2017 wird durch zahlreiche Veranstaltungen großen Stils des 500. Jahrestages des Thesenanschlags durch Martin Luther gedacht, der traditionell als Beginn der Reformation betrachtet wird. Das große Jubiläum steht in kirchlichen Institutionen, aber auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit sowie im wissenschaftlichen Bereich seit einigen Jahren kontinuierlich auf der Agenda. Im Gegensatz dazu finden sich im deutschen Sprachraum bisher kaum Hinweise auf das 600. Jubiläum des Todestages von Jan Hus, des tschechischen Theologen und Kirchenreformers, der 1415 auf dem Konstanzer Konzil entgegen vorheriger Schutzgarantien als Ketzer verbrannt wurde. Eine Ausnahme bildet die „Konzilsstadt Konstanz“, die zumindest im Hus-Gedenkjahr eine Reihe internationaler und ökumenischer Veranstaltungen plant. In Tschechien gilt dem als nationale Identifikationsfigur verehrten Reformtheologen im Kontext des Jubiläums besondere Aufmerksamkeit.
Jan Hus war in der älteren Geschichtsforschung sowie in der Erinnerungskultur Deutschlands und im mittel- bzw. osteuropäischen Raum oft eine Projektionsfläche für plurale konfessionelle wie auch nationale Interessen. Das Deutungsspektrum reicht vom „Häretiker“ über den „Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit“ bis zum „Übervater der tschechischen Nation“. In der protestantisch geprägten Kirchengeschichtsschreibung galt Jan Hus traditionell als „Vorreformator“, wodurch die hussitische Reformbewegung ihre eigene Kontur und Bedeutung einbüßte. In neueren Darstellungen zur Reformationsgeschichte wird die Bezugnahme der Reformatoren auf Hus und John Wyclif dagegen vornehmlich als ein aus protestantischer Sicht konstruiertes Geschichtsbild einer „häresiologischen Genealogie“ (Thomas Kaufmann) entlarvt. Häufig werden die markanten Reformbewegungen in England und Böhmen in die spätmittelalterliche Dynamik der religiösen Pluralisierung aufgrund des abendländischen Schismas eingeordnet, wobei ein direkter Bezug zur Reformation bestritten wird.
Die Tagung wird sich in ihrem ersten Teil die Frage nach der Erschließung der Reformation im Kontext spätmittelalterlicher Reformbewegungen und gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen stellen. Damit greift sie einen Diskurs auf, der seit einigen Jahren nach erkennbaren Kontinuitäten zwischen Früher Neuzeit und dem Spätmittelalter bzw. nach den Kriterien eines Systembruchs oder eines „epochalen Transformationsprozesses“ durch die Reformation fragt. Die von Jan Hus geprägte Reformbewegung wird zum einen daraufhin untersucht, ob sie zu den spätmittelalterlichen Entstehungsvoraussetzungen der Reformation zu zählen ist und damit an dem langwierigen Gesamtprozess einer Transformation zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit partizipiert, in den auch die Reformation einzuordnen ist, oder ob erst durch die Reformatoren der Konnex zu den vorangegangenen Reformbewegungen hergestellt wurde, die jene schließlich in ein konfessionell und apologetisches Geschichtsbild integrierten. Den historiographischen Themen wird im ersten Teil der Tagung nachgegangen.
In der zweiten Sektion sollen Wege der Rezeption und der Wirkungsgeschichte von Jan Hus exemplarisch veranschaulicht werden. Dabei geht es zum einen um die Frage, welche hussitischen Elemente in nachfolgenden konfessionellen Gemeinschaften, etwa im Pietismus, eventuell weiterlebten, nach welchen Kriterien sie ausgewählt wurden bzw. inwieweit sie bewusst oder unbewusst weitertradiert wurden. Darüber hinaus hatten Jan Hus und seine Lehre auch eine klar politisch einzuordnende Wirkungsgeschichte: Führende Persönlichkeiten der tschechischen Nationalbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, von dem (protestantischen) Landeshistoriographen František Palacký bis hin zum ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, Tomáš G. Masaryk, haben auf Hus Bezug genommen. Andererseits wurden die Hussiten im Zeichen eines deutsch-tschechischen Antagonismus zu einem Streitobjekt. Welche Stereotypen wurden auf sie projiziert, und wie ist die häufig zu beobachtende deutsche Gleichsetzung Tschechen = Hussiten historisch einzuordnen? Ein Einzelbeitrag wird sich mit der kommunistischen Rezeption des Hussitismus in der Tschechoslowakei zwischen 1948 und 1989 befassen: Welche geschichtspolitischen Ziele verfolgte das Regime mit seiner Inanspruchnahme der „hussitischen Revolution“, welche Auswirkungen hatte diese Instrumentalisierung auf die historische Forschung, auf die Geschichtsdidaktik und die öffentliche Wahrnehmung?
An die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte schließt sich ein Block zur Erinnerungskultur an, die sich an konkreten Orten materialisiert, aber auch in geistigen Artefakten artikuliert. Die Leitfrage lautet hierbei, welche Identitätskonstruktionen insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert auf Jan Hus und seiner Lehre begründet wurden. Ein wichtiger Ort in Deutschland ist Konstanz, der Ort des Konzils und des Martyriums, für viele Tschechen eine Art nationaler Wallfahrtsort, von den deutschen Zeitgenossen in verschiedenen Kontexten unterschiedlich bewertet.
Die Tagung findet statt im Kontext des Kooperationsprojekts "Freiheitsraum Reformation 2012-2017", nähere Informationen unter: http://www.freiheitsraumreformation.de/