Quo vadis Zeitgeschichte? Zur Neuerfindung der Zeitgeschichte im 21. Jahrhundert

Quo vadis Zeitgeschichte? Zur Neuerfindung der Zeitgeschichte im 21. Jahrhundert

Veranstalter
Prof. Dr. Hélène Miard-Delacroix (Universität Paris-Sorbonne), Dr. Emmanuel Droit (Universität Rennes 2), Dr. Frank Reichherzer (Humboldt Universität zu Berlin)
Veranstaltungsort
Deutsches Historisches Institut Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
01.10.2014 - 02.10.2014
Deadline
01.06.2014
Website
Von
Frank Reichherzer

Mit Blick auf die Massengewalt der beiden Weltkriege und Diktaturerfahrungen etablierten und institutionalisierten sich „Zeitgeschichte“ in Deutschland und „Histoire du temps présent“ in Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Subdisziplinen der Geschichtswissenschaften. Beiderseits des Rheins ist die Zeitgeschichte zum scheinbar dominanten Feld geworden: Mit und vermittelt über Zeitgeschichte sind „die Epoche der Mitlebenden“ und ihre Erinnerungskultur als wissenschaftliche Untersuchungsfelder und als epistemologische Objekte in das Zentrum der Forschung und Interessen der Geschichtswissenschaften gerückt.

In der Bundesrepublik wie in Frankreich wurden die gleichen methodologischen Fragen aufgeworfen, u.a. die Gültigkeit dieses „Sehe-Punktes“, die zeitliche Tiefe der Zeitgeschichte und ihre Zäsuren, die Rolle des Zeitzeugen als „Phänomen der öffentlichen Geschichtskultur“, die Stellung des Zeithistorikers gegenüber der öffentlichen Nachfrage, verschiedene Formen der Vergangenheitspolitik und die Frage von zeitlicher Distanz und Zeitgenossenschaft.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verschwinden langsam die großen Katastrophen des vergangen Jahrhunderts und die mit ihr verknüpften Probleme aus dem Setting der Gegenwart. Die Rolle der Zeitgeschichte als nationale Nabelschau und Selbstvergewisserung erodiert gleichermaßen. Heute zeichnen sich neue Herausforderungen und Probleme teils in ihren Konturen, teils mit deutlich erkennbaren Effekten ab. Das Aufweichen der Paradigmen der Moderne, Globalisierungs- und Interdependenzerfahrung, die Entstehung der uns umgebenden „Digitalen Welt“ deuten an, dass die Zeitgeschichte in eine neue Phase eingetreten ist und sich (wieder einmal) neu erfinden muss. Zeitgeschichte in und über unsere Gegenwart schreiben zu können erfordert daher zunächst eine Bestandsaufnahme und Anpassung der bewährten Instrumente sowie darüber hinausgehend die Reflexion über neue Fragen, Ansätze und Methoden.

Diesen Themen werden sich unter dem Schlagwort „quo vadis Zeitgeschichte“ Nachwuchswissenschaftler (Doktoranden wie Postdoktoranden) auf einer Konferenz im Deutschen Historischen Institut Paris im Herbst 2014 widmen. Die Konferenz bildet den Abschluss einer französisch-deutschen Workshop-Reihe, bei der sich Doktoranden aus Paris, Rennes und Berlin vor dem Hintergrund ihrer eigenen Forschung mit der Vermessung der Zeitgeschichte im 21. Jahrhundert beschäftigt haben.

Vortragsvorschläge sind zu einem der folgende Themenkomplexe erwünscht:

Genealogie der Gegenwart – Zeitgeschichte als Perspektive

Die Zeitgeschichte hat in ihrer Entwicklung und Etablierung viel Energie und auch ihren durchschlagenden Erfolg der Aufarbeitung der „letzten Katastrophe“ zu verdanken. Aber auch ein anderer Blick ist möglich. Insbesondere das Aufgeben der Fixierung auf die letzte große Krise zugunsten des Versuchs, die aktuellen Bedingungen der Gegenwart zu historisieren und damit zu begreifen, bietet eine lohnende Alternative (Hans Günter Hockerts). Doch was bedeutet es, Zeitgeschichte als Perspektive genealogisch von der Gegenwart aus zu denken? Welche Folgen und Probleme sind mit dieser Art und Weise verknüpft, Zeitgeschichte so zu verstehen und zu schreiben? Welche thematischen Felder werden somit interessant? Was ergibt sich daraus für die Grenzen der Zeitgeschichte? Wo ist die zeitgeschichtliche Perspektive zwischen hegemonialer „histoire totale“ und ihrer Auflösung zu verorten? Was ist ihr Alleinstellungsmerkmal im Fach und auch gegenüber den Nachbardisziplinen? Welche Impulse aus den Nachbardisziplinen sollte die Zeitgeschichtsforschung aufgreifen?

Sehen und Hören – Zeitgeschichte und Medien

Neue Medien prägen die Gegenwart. Wie geht aber der Zeithistoriker im Zeitalter der Massenmedien, der Nachrichtenkanäle und des Internets mit audiovisuellen Quellen um? Was ist der Mehrwert dieser Quellenarten? Welche Methoden- und Ideentransfers aus Nachbardisziplinen (Medienwissenschaften, Kulturwissenschaften, Sozialwissenschaften etc.) sind auf (zeit-)historische Fragestellungen anwendbar? Auf welche Weise ermöglichen die audiovisuellen Medien die Erschließung von neuen thematischen Forschungsfeldern oder die Neuinterpretation von zeitgeschichtlichen Prozessen und Ereignissen?

Digital Humanities – Zeitgeschichte (in) der digitalen Welt

Wir leben in einer digitalen Welt. Eine wichtige Frage ist unbestritten, wie die Geschichte dieser Zeit geschrieben werden kann. Ein weiterer Komplex fragt danach, was die digitale Revolution der letzten Jahrzehnte und die Existenz von „tools“, „digitalen Reproduktionen“ etc. für die Zeithistoriker bedeuten und wo Möglichkeiten und Grenzen liegen. Genauer: Wie wirken sich quantitative und qualitative Effekte der Beschleunigung auf den Forschungsprozess aus? Erleben wir gar einen grundlegenden epistemologischen Strukturwandel, auf dessen Basis komplett neue Fragen möglich werden? Wie verhält es sich mit den großen weißen Flecken der analogen Welt? Inwieweit trägt die digitale Revolution zu einer Reflexion über die neuen Bedingungen des Berufs des Zeithistorikers bei? Wie können Zeithistoriker mit Quellen beispielsweise aus Facebook oder Twitter arbeiten? Was bleibt vom „Geschmack des Archivs“ (Arlette Farge) übrig? Verwandelt sich der Zeithistoriker nun in einen „Arbeitszimmerhistoriker“? Neben dem Forschen ist das Schreiben eine weitere Dimension. Was sind die Chancen, die neue Kommunikationsmittel bieten (Blogs, Foren, Hypertext, virtuelle Forschungsumgebungen, kollektives Schreiben etc.) und welche Probleme zeigen sich hier?

Vortragsvorschläge von max. 500 Worten (französisch oder deutsch) sowie ein kurzer Lebenslauf und eine Publikationsliste sind bis zum 1. Juni 2014 an die Veranstalter der Konferenz zu senden: helene.miard-delacroix@paris-sorbonne.fr, emmanuel.droit@uhb.fr, frank.reichherzer@hu-berlin.de .

Die Auswahl der Beiträge erfolgt spätestens am 20. Juni 2014. Die Kosten für Reise und Unterkunft der Konferenzteilnehmer werden von den Organisatoren übernommen. Konferenzsprachen sind französisch und deutsch. Die Beiträge sollten daher in deutscher/französischer Sprache verfasst und auf 30 Minuten Redezeit hin angelegt sein.

Programm

Kontakt

Frank Reichherzer

Humboldt-Universität zu Berlin / Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen

+ 49 (0)30 2093 70597

frank.reichherzer@hu-berlin.de


Redaktion
Veröffentlicht am
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Land Veranstaltung
Sprach(en) der Veranstaltung
Französisch, Deutsch
Sprache der Ankündigung