„Die Zukunft des 20. Jahrhunderts“ ist ein kooperatives Forschungsprojekt, das über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg bestehende Forschungen zu einzelnen Aspekten, Räumen und Epochen der Historischen Zukunftsforschung des 20. Jahrhunderts zusammenführen und neue anstoßen wird. Es beruht auf einem national und international aufgebauten Netzwerk von Forschern verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen, die ihre Forschungsergebnisse vorwiegend auf workshops, Tagungen und Konferenzen zusammentragen und auf einander abstimmen. Ziel des Forschungsprojekts ist
1. eine integrative Gesamtperspektive auf die Zukunftsvorstellungen Europas im 20. Jahrhundert zu gewinnen, welche Antworten auf die Frage nach übergeordneten Gesichtspunkten der epochalen Zäsurbildung, des segmentären Wandels von gesellschaftlichen Leitbildern und des Zusammenspiels zwischen ihnen anbietet,
2. eine erweiterte theoretischen Grundlagenreflexion auf die politische, soziale und kulturelle Bedeutung von Zukunftsentwürfen in der modernen Gesellschaft anzustoßen,
3. eine methodisch ausgerichtete Analyse der Generierungsformen von Zukunftsentwürfen und ihres „Leistungsvermögens“ in wechselnden historischen Zusammenhängen.
Das Zusammenspiel von Zukunftsvorstellungen
Die historiographische Bedeutung vergangener Zukunftserwartungen liegt gerade darin, dass sie sich nicht oder nur zum Teil so wie einst entworfen realisiert haben. Es ist aber nicht damit getan, sie, wie in der älteren historistischen Geschichtsschreibung üblich, angesichts des oft anders verlaufenen tatsächlichen Gangs der geschichtlichen Entwicklung einfach als Illusionen zu verwerfen (bzw. als kluge Weitsicht eines Zeitgenossen zu würdigen). Vielmehr liefern Zukunftserwartungen ganz im Gegenteil wichtiges Material für das Verständnis der Vergangenheit.
Der Ertrag einer solchen neuen theoretischen Perspektive für die Geschichte des 20. Jahrhunderts liegt zunächst darin, dass vergangene Zukunftsvorstellungen die Motivation der Zeitgenossen verdeutlichen, deren Anstrengungen zur Realisierung großer kollektiver Unternehmungen erklären und sogar noch bei deren Scheitern im Widerstand gegen deren Preisgabe historisch wirksam werden.
Im historischen Zusammenhang ihrer Entstehung, Geltung und Verwerfung gelesen, trägt die Identifizierung vergangener Zukunftsvorstellungen darüber hinaus aber auch der Erforschung und Erklärung von Geschichtsbrüchen Rechnung, welche die Geschichte des 20. Jahrhunderts – nicht nur in Europa, aber hier besonders stark – durchziehen. Geschichtsbrüche können als epochale Ereignisse definiert werden, die den Zukunfts- und Vergangenheitshorizont einer Gesellschaft in kurzer Zeit radikal verändern. Die sprengen damit den bisherigen Kontinuitätsfluss der Geschichte auf und entwerfen neue Geschichtskonzepte.
Damit soll ein neuer Erklärungsansatz für eines der Hauptprobleme derzeitiger Forschungen zum 20. Jahrhundert erprobt werden: die Schwierigkeit, die verschiedenen Phasen des Jahrhunderts in eine einheitliche langfristige Erzählung einzubinden. Eine traditionelle Fortschrittsgeschichte, wie sie im 18. Jahrhundert entworfen wurde, vermag dies nicht mehr zu leisten. Zahlreiche historische Brüche lassen die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts nämlich in Fragmente zerfallen, die sich auf der Grundlage eines einheitlichen Geschichtsbildes und Geschichtsbegriffs auch im Nachhinein nicht mehr ohne Verzerrung ihres Selbstbildes zusammenfügen lassen.
Schließlich geht es aber auch darum, das Zusammenspiel von Zukunftsvorstellungen, ihre zeitweilige Konkurrenz und wechselseitige Ablösung zu erforschen und darzustellen. Dabei spielen einschneidende neue Erfahrungen ebenso eine Rolle wie Verdrängungsprozesse innerhalb der Aufmerksamkeitsökonomie einer Gesellschaft.
Generierungsformen von Zukunft
Was die Menschen zu ihrer Zeit jeweils als ihre Zukunft bezeichnen, sind keine empirisch verbürgten Fakten, sondern Vorstellungen, die auf sehr unterschiedliche Weise gewonnen werden: Bald handelt es sich um Tendenzprognosen, bald um Wiederholungs- und Analogieprognosen; bald um Angst-, bald um Wunschprognosen usw. Zur Zukunft rechnen wir aber nicht allein Prognosen und Utopien, sondern auch Planungen und Präventionen, Risikoabschätzungen und politische Programme.
Die Generierungsformen vergangener Zukunftsentwürfe und erstrebter Zukunftsgestaltungen, ihre „Rationalitäten“ und Evidenzen, vor allem aber die Grenzen ihrer Leistungskraft sind bislang noch wenig erforscht worden: Welche Faktoren wurden bei der Erstellung von Prognosen einbezogen, welche ausgegrenzt? Was waren für die Zeitgenossen feste Rechnungsgrößen, was bloße Wunschvorstellungen, was Sorgen, denen man mehr oder weniger stark Rechnung tragen wollte? Welche wissenschaftlichen Modelle und welche massenmedialen Vermittlungsformen standen bereit, sich der Zukunft zu vergewissern? Wie wurden Zukunftsvorstellungen politisch eingesetzt, wie medial inszeniert, welchem Zweck dienten sie? Wie wurden sie durch die Zugrundelegung ausgewählter Datensätze oder auch sprachpolitisch manipuliert?
Zukunftsplanung, Vorsorge und Prävention sind im 20. Jahrhundert zu einem zunehmend wichtigen Handlungsfeld sozialer Großorganisationen, von Planungsstäben und „think tanks“ geworden: sei es in Form von gesamtwirtschaftlichen Plänen, sei es im Sinne wirtschaftlicher Langzeitprojekte wie der Weltraumforschung oder der heutigen Entwicklung von Elektroautos.
Mit der Kybernetik und der Futurologie entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg sogar ganz neue Wissenschaftszweige, die sich die wissenschaftliche Erforschung und Lenkung zukünftiger Entwicklungen zum Ziel setzten. Aus den negativen Erfahrungen mit Fehlentwicklungen technischer Entwicklungen entstand andererseits in den letzten Jahrzehnten die Technikfolgenabschätzung, welche ihrerseits wieder mit neuen prognostischen Modellen wie der Konstruktion alternativer Zukunftsszenarien arbeitet.
Neben solchen planerischen Formen der Zukunftsgestaltung haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber auch neue Verwaltungsformen, mit möglichen Zukunftsereignissen umzugehen, wie etwa das Versicherungswesen, zugenommen.
In all dem eröffnet sich ein Untersuchungsfeld, das in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Bedeutung gewonnen hat, in der Geschichtswissenschaft aber erst ansatzweise bearbeitet worden ist. Möglicherweise lässt sich daher in der Zukunftsökonomie westlicher Gesellschaften im 20. Jahrhundert eine langfristige Verlagerung der historischen Zukunftsbearbeitung weg von materiellen Zukunftsentwürfen, deren Eintreten als mehr oder weniger naturwüchsig vorgestellt wird, wie sie noch in der ersten Jahrhunderthälfte dominierten, hin zu planenden und vorsorgenden (wissenschaftlichen, technischen, emotionalen) Formen der Zukunftsgestaltung erkennen.
Dass kollektive Zukunftsentwürfe ihre politische Relevanz nicht ohne den massiven Einsatz der Massenmedien gewinnen konnten, scheint selbstverständlich, ist jedoch bislang erst punktuell beachtet worden. Damit zusammen hängt auch die schwer zu beantwortende Frage, wie Zukunftsentwürfe ihre Glaubwürdigkeit gewinnen und dann auch wieder verlieren: Man darf davon ausgehen, dass dabei Prozesse der Massenkommunikation eine entscheidende Rolle spielen.
Zur Konstruktion historischer Zeiten
Über ihre materiellen Inhalte und die Formen ihrer Generierung hinaus lenken Zukunftsvorstellungen schließlich den Blick auch auf die historischen „Zeitordnungen“, welche das Handeln der Menschen eingrenzen und lenken, d. h. auf die Bedeutung und den Wandel der „Zeitlichkeit“ des historischen Geschehens überhaupt. Gefragt werden muss daher auch nach der temporalen Form der Eingebundenheit vergangener Gegenwarten in deren jeweilige Zukunft und Vergangenheit; mit anderen Worten nach dem, was in der neueren Geschichtstheorie oft deren „Historizität“ bzw. deren „Zeitregime“ genannt wird.
Die Moderne wird seit dem 19. Jahrhundert häufig als eine Zeit beschrieben, die sich zunehmend auf Zukunft bezieht; der zukünftige Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung geradezu notwendig eingeschrieben sind (Myrdal). Damit erscheint die vergangene Zukunft schon seit langem als dominante Dimension vergangener Geschichts- und Planungsentwürfe. Offen blieb dabei jedoch in aller Regel, wie sich die Zukunftsorientierung moderner Gesellschaften zu ihrer Vergangenheits- und Gegenwartsorientierung verhält: Handelt es sich um ergänzende oder um alternative Formen der historischen Zeitorientierung? Setzt die Zukunftsorientierung eine Vergangenheitsorientierung voraus oder ist alles neu, ohne Vorbild und ohne Vorlauf, was die Zukunft bringt? (Koselleck) Wird die Zukunftsdominanz der klassischen Moderne gar in jüngster Zeit von einer postmodernen Dominanz der Gegenwart (Gumbrecht) oder der Vergangenheit (Assmann) abgelöst?
Wie immer man diese Fragen beantwortet, so ist jedenfalls festzuhalten: Im "Zeitregime" des 20. Jahrhunderts war die Zukunft gegenüber Gegenwart und Vergangenheit noch immer die dominante Zeitdimension.
Aufgabe des Tagungsprojekts ist es bei der Suche nach Antworten auf solche Fragen allerdings, die bislang noch recht unsystematischen und kulturphilosophisch verallgemeinernd gehaltenen Überlegungen zum Wandel des Zeitregimes im 20. Jahrhundert auf empirische Forschungen zu stützen und so besser überprüfbar zu machen. Dann wird hoffentlich auch die Frage zu beantworten sein, wie der Wandel der Zeitregime in die Darstellung der Geschichte des 20. Jahrhunderts Eingang finden kann. Die Frage nach dem gesellschaftspolitischen Stellenwert von Zukunftsvorstellungen kann dabei als Korrektiv und Leitfrage dienen.
Interessierte sind herzlich willkommen. Um verbindliche Anmeldung bis zum 9. Juli 2014 (Sekretariat Roxana Schönfeld - roxana.schoenfeld@rub.de) wird gebeten.