Gemeinschaftsformen der Moderne - Mechanismen eines Konstrukts

Gemeinschaftsformen der Moderne - Mechanismen eines Konstrukts

Veranstalter
Maude Williams, Daniel Hadwiger, Agnès Vollmer
Veranstaltungsort
Universität Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.06.2016 - 24.06.2016
Deadline
21.03.2016
Website
Von
Maude Williams

Gemeinschaftsformen der Moderne - Mechanismen eines Konstrukts

In der Alltagssprache bezeichnet die Gemeinschaft die Vorstellung einer Einheit mehrerer Individuen, die auf gemeinsame Merkmale und äußere Zusammenhänge sowie einem Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) beruht. Umgangssprachlich findet der Begriff eine vor allem subjektive Verwendung zur Bezeichnung sozialer Systeme und Einheiten. Der Begriff Gesellschaft wiederum beschreibt die größte soziale Einheit, die alle anderen sozialen Einheiten umfasst. Lange Zeit galten die beiden Begriffe als Synonyme. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurden Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies als dichotomisches Begriffspaar in das soziologische Vokabular eingeführt (Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 1887), um dadurch zwei aus der Realität abstrahierte Typen menschlicher Verbundenheit zu definieren. Der besondere Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft lag für Tönnies insbesondere darin, dass die Grundformen der Gemeinschaft (Blutsgemeinschaft, Ortsgemeinschaft und Religionsgemeinschaft) ein organisch gewachsenes Ganzes waren, im Gegensatz zu den planmäßig und zweckhaft geschaffenen gesellschaftlichen Typen der Gesellschaft.
Andere Arbeiten, besonders im Bereich der Soziologie, erweiterten Definitionen und Eigenschaften der beiden Begriffe: Während Emile Durkheim Kriterien für die Gemeinschaft in seinem Werk De la division du travail social einführte, arbeitete 1921 Max Weber die Aufbauprozesse heraus, die er als „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921) bezeichnete. „Gemeinschaft“ wurde besonders seit dem 19. Jahrhundert zu einem verheißungsvollen Gegenbegriff zu „Gesellschaft“, die für die Verfolgung des Eigeninteresses und unheilvoller Veränderung in Politik, Wirtschaft und sozialer Ordnung der Moderne stand. Der Wunsch nach Gemeinschaft schließt somit auch eine Kritik an der Gegenwart ein und zielt auf eine noch zu erreichende und bessere Zukunft, die häufig mit einer verlorenen Vergangenheit in Verbindung gesetzt wurde.
Die Pluralität der Gemeinschaften wurde bereits mit Ferdinand Tönnies hervorgehoben und seitdem in der Forschung ergänzt und konzeptualisiert. Drei Idealtypen von Gemeinschaft wurden dabei identifiziert: „Community of place“, „community of choice“ und eine dritte, die sich „durch Veranstaltung, Medien, Symbole und Diskurse [...] etabliert [...], die den Erfahrungs- und Kommunikationsraum durchdringen und einen Orientierungsrahmen sowohl für das Handeln in den „communities of place“ als auch in den „communities of choice“ anbieten oder vorgeben.“ (Habbo Knoch, „Gemeinschaften im Nationalsozialismus vor Ort“, 2013). Dieser dritte Idealtyp der Gemeinschaft, „imagined community“ (Anderson) bezeichnet Gemeinschaften, die „größer als die dörflichen mit ihren Face-to-Face-Kontakten“ sind und die ideell ein Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen. Dieses Konzept der “imagined community” fand in verschiedenen Forschungsbereichen große Resonanz.

Im Zentrum dieses interdisziplinären Workshops stehen vor allem Prozesse der Vergemeinschaftung dieser „immagined communities“: Wie unterschiedlich diese Prozesse sein können, zeigt sich anhand von Nationen, die eine möglichst homogene Gruppe mit der gleichen Sprache, Religion oder Kultur in sich zu vereinigen wünschen, internationale Organisationen sowie transnationale Bewegungen und Netzwerke, die ideelle Werte aber auch konkrete politische und soziale Ziele gemeinsam anstreben oder anhand der NS-Volksgemeinschaft, die eine Unterordnung des Individuums zugunsten des Kollektivs forderte und dabei in einer noch zu erreichenden idealisierten Zukunft die Erfüllung des individuellen Glücks versprach.

Ziel des Workshops ist es, durch die Untersuchung der Prozesse von Vergemeinschaftung nach Möglichkeit spezifische Mechanismen herauszuarbeiten, die zur Konstruktion der „imagined communities“ führen. Außerdem erlaubt der Vergleich verschiedener Gemeinschaftsformen die Hintergründe und Akteure der Vergemeinschaftung zu beleuchten, die Herausbildung zu einer Gruppe zu untersuchen und sie auf ihre in- und exkludierenden Eigenschaften hin zu analysieren. Relevant sind sowohl die Mittel, wodurch diese Gemeinschaftsformen entstehen, als auch soziale Praktiken, Wahrnehmung und Auswirkungen derselben auf die Betroffenen.

Vorschläge im historischen, politischen, anthropologischen und soziologischen Bereich sind insbesondere willkommen. Dabei können Beiträge in folgenden Bereichen zur Anwendung kommen:

- Entstehung von Nationalstaaten
- Lokale und regionale Gemeinschaften
- Wertegemeinschaften, religiöse und politische Gemeinschaften, Vereine, Gewerkschaften, Verbände, Genossenschaften, Berufsgruppen
- Internationale Organisationen (Internationales Rotes Kreuz), transnationale Bewegungen (Friedensbewegung), Handelsgemeinschaften (Deutscher Zollverein)
- Freundschafts- und Familiengemeinschaft
- Ethnie- und Gendergemeinschaft
- Erinnerungsgemeinschaft (Shoah, Nostalgérie, Ostalgie)
- Gemeinschaftsutopien (Marxismus, Robert Owen)

Die Arbeitssprachen sind Deutsch, Französisch und Englisch. Die Vorträge sollten nicht länger als 20 Minuten dauern.

Reise- und Übernachtungskosten sowie die Verpflegung vor Ort werden für die TeilnehmerInnen übernommen.

Senden Sie Ihre Beitragsvorschläge im Umfang von max. 500 Wörter und einen kurzen Lebenslauf bitte bis zum 21. März 2016 an folgende E-Mailadresse: gemeinschaftsideologie@gmail.com

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Forms of communities in modern era– The mechanisms of a construct
In everyday speech community describes the idea of an entity of several individuals which is based on common characteristics and exterior connections as well as the sense of connectivity. In everyday language, the expression of community is foremost used in a subjective way to describe social systems and entities. The expression society, on the other hand, describes the largest social entity which includes all other social entities. For a long time both expressions were used synonymously. Only in 1887, the two terms society and community were introduced by Ferdinand Tönnies (Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie) as a dichotomic pair in the sociological vocabulary. Those expressions defined two types of human connection which are abstracts of reality. For Tönnies, the specific difference between community and society was based on the fact that the basic forms of community like the community of blood, the community of place, and the community of religion were organically grown unities, contrary to those types of society which were created purposefully and in a systematically way.
Other studies, especially in sociology, expanded the definitions and characteristics of the two terms: While Emile Durkheim introduced some criteria for community in his work De la division du travail social, Max Weber mapped out the building processes of community. He named them communization and socialization (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921). Since the early 19th century, the term community has especially become a promising counter term to society, which stood for the pursuit of personal interest and ominous changes in politics, economics and social order of Modernity. The desire for community therefore also entailed criticism of the present as well as pursuit of a better and attainable future often linked to a lost past.
The plurality of communities was already emphasized by Ferdinand Tönnies and has since then been complemented and conceptualized. Three ideal types of community were identified: The community of place, the community of choice, and one which is established „through events, media, symbols and discourses which permeate the space of experience and communication and which offer or impose a framework for orientation for the action in the communities of place as well as for the communities of choice.” (Habbo Knoch, Gemeinschaft im Nationalsozialismus vor Ort, 2013.) This third type of community, the imagined community (Anderson), describes communities which “are larger than the village face-to-face contacts” and which create a feeling of togetherness based on common ideals. This concept of imagined communities has had a large response in diverse disciplines.
In the centre of this interdisciplinary workshop are above all the processes of communalization of these imagined communities. How different these processes are can be presented through different examples for imagined communities. Nations (Anderson) aim to unite a homogeneous group with the same language, religion or culture. International organisations as well as transnational movements or networks share ideals, but also strive for concrete political and social goals. These processes may also be seen in the Nazi Volksgemeinschaften which demanded the subordination of the individual for the benefit of the collective body, and thereby promised the fulfilment of individual happiness.
Furthermore, the comparison between different forms of community permits a closer look at the background and the actors of communalization, and their formation as a group. In addition, it is of importance to analyse the including and excluding characteristics of communalization. Relevant are also the means and tools through which those different forms of communities develop, in addition to the practices, perception and impact of these on the people affected.
This workshop aims to find the specific mechanisms which lead to the construction of imagined communities, through the analysis of the processes of communization.
Proposals from historical, political, anthropological and sociological fields are especially welcome. Contributions can include, but are not limited to:
- The development of nation-states
- Local and regional communities
- Communities of value, religious and political communities (association, clubs, labour unions, profession groups)
- International organisations (International Red Cross), transnational movements (peace movement), trade communities (German Customs Union)
- Community in Family and Friendships
- Ethnic and gender communities
- Memory-based community (Shoa, Nostalgérie, Ostalgie)
- Utopian communities (Marxism, Robert Owen)

The working languages are German, French and English. Presentations should be no longer than 20 minutes.

The workshop will be able to cover travel expenses and accommodations, and will provide catering for participants. Please send your paper proposals (max. 500 words) and a short CV by March 21, 2016 to: gemeinschaftsideologie@gmail.com

Programm

Kontakt

Maude Williams

Karl Eberhard Universität Tübingen, Seminar für Zeitgeschichte

maude.fagot@gmail.com