Kulturen des Risikos im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Kulturen des Risikos im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Veranstalter
Professor Dr. Benjamin Scheller; Historisches Kolleg
Veranstaltungsort
Historisches Kolleg, Kaulbachstr. 15, 80539 München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.03.2017 - 01.04.2017
Deadline
16.03.2017
Von
Jörn Retterath, Historisches Kolleg, Stiftung zur Förderung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Historischen Kollegs

Im Zentrum des Kolloquiums steht die Frage, wie in Mittelalter und Früher Neuzeit Risiken wahrgenommen und bewältigt wurden. Dabei soll ein besonderer Akzent auf Praktiken der aktiven Bewältigung von Risiken durch Prävention, Kalkül etc. gesetzt werden. Damit knüpft das Kolloquium an Fragen an, die in der Geschichtswissenschaft gegenwärtig hochaktuell sind und in verschiedenen Forschungszusammenhängen aus unterschiedlichen Perspektiven angegangen werden.
Der Begriff der „Kultur des Risikos“ geht auf Herfried Münkler zurück. Dieser bezeichnet damit Arrangements, die künftige Bedrohungen und Schäden berechen- und kalkulierbar machen. Die Frage des Kalküls und damit des Wissens über Risiken gehört zu den zentralen Fragen des Kolloquiums. Risiken fallen vielfach unter jenen Typus von kontingenten Ereignissen, die mit Ulrich Bröckling als known unknowns bezeichnet werden können. Sie sind also künftig mögliche Geschehnisse, über die sich durch die Beobachtung vergangener Zukünfte Erwartungen bilden lassen. Dies wirft eine Reihe von Fragen auf: Wie beobachteten die Akteure diese vergangenen Zukünfte? Welcher Techniken des Informationsmanagements bedienten sie sich? In welchem Verhältnis standen unterschiedliche Formen des Wissens, etwa „gelehrtes“ und praktisches? Welche Erwartungen bildeten unterschiedliche Akteure in unterschiedlichen Feldern schließlich auf der Basis unterschiedlicher Wissensformen?
Ein weiterer zentraler Aspekt der vormodernen Kulturen des Risikos ist die Frage der Zurechnung. Akteure können künftig mögliche Bedrohungen und Schäden unterschiedlich zurechnen: Entweder führen sie sie auf Entscheidungen, die sie selbst getroffen haben, oder aber auf Ereignisse in ihrer sozialen oder natürlichen Umwelt zurück. Niklas Luhmann zufolge kann nur im ersten Fall von einer Beobachtung eines möglichen Schadensereignisses als Risiko die Rede sein, im zweiten Fall dagegen werde es als Gefahr beobachtet. Unabhängig davon, ob man den Begriff des Risikos in dieser Form eingrenzen möchte, gilt jedoch, dass die Zurechnung auf Entscheidungen die Handlungsoptionen der Akteure kontrolliert erweitert. Denn sie eröffnet ihnen die Möglichkeit, Schäden zuzulassen, die im Prinzip vermeidbar wären, sofern die Kalkulation von Schadenswahrscheinlichkeit und/oder etwaiger Schadenshöhe dies als vertretbar erscheinen lässt. Als Kehrseite des Risikos gerät dann zunehmend die Chance ins Blickfeld. Ganz in diesem Sinne betonte bereits Bernardino von Siena (1380–1444), dass das spätmittelalterliche Versicherungswesen das Handelsvolumen in den jeweiligen Gemeinwesen erhöhe, da die Kaufleute Geschäfte tätigten, die sie nicht wagen würden, wenn sie keine Versicherer für diese fänden.
Dennoch dominiert bis in die unmittelbare Gegenwart in der Geschichtswissenschaft die Auffassung, dass mögliche künftige Schäden im Mittelalter und zum Teil auch in der Frühen Neuzeit nicht als Risiken, sondern vor allem als Gefahren wahrgenommen wurden. Ihnen gegenüber habe sich der Mensch letztlich hilflos gefühlt und passiv verhalten, da sie als gottgegeben wahr- und hingenommen wurden. Erst in der Neuzeit bzw. der Moderne seien kontingente Schäden dann zusehends auf Entscheidungen zurückgeführt und Gefahren so in Risiken transformiert worden.
Eine Fülle von Einzelforschungen aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Geschichtswissenschaft, vor allem der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte, aber auch der Umweltgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit hat zwar immer wieder zeigen können, dass diese Sicht sehr verkürzt, wenn nicht grob falsch ist. Doch ist die Frage nach der Beobachtung, Zurechnung, Einschätzung und Bewältigung von Risiken und Gefahren in Mittelalter und Früher Neuzeit im Spannungsfeld bzw. Wechselspiel von innerweltlich und außerweltlich bisher selten grundsätzlich und vergleichend aufgeworfen worden.
Auf dem Kolloquium „Kulturen des Risikos in Mittelalter und Früher Neuzeit“ sollen unterschiedliche soziale Felder behandelt werden, auf denen Risiken eine besondere Herausforderung für die historischen Akteure darstellten, und danach gefragt werden, welche Formen des Wissens über Risiken und welche Praktiken der Risikobewältigung in diesen Feldern entstanden.
Von Bedeutung erscheint dabei zunächst einmal das ökonomische Feld mit seinen spezifischen Verlustrisiken und Gewinnchancen, das seit dem Hochmittelalter im mediterranen Seehandel als erstes einen Begriff des Risikos ausbildete, außerdem Krieg und militärische Expansion, bei denen das Risiko der Niederlage eine geradezu existenzielle Dimension und die Produktion von Wissen über das Ungewisse daher eine besondere Dringlichkeit hatte, und die „natürliche Umwelt“, deren Extremereignisse Gesellschaften, die ihnen ausgesetzt waren, herausforderten, Praktiken der Prävention und der Anpassung zu entwickeln. Aber auch das Feld des Politischen lässt sich als spezifische Kultur des Risikos fassen. Denn die Entscheidungen, die in ihm getroffen und durchgesetzt werden müssen, sollen zumindest dem Anspruch nach Wirkungen entfalten, die für politische Gemeinwesen als ganze Verbindlichkeit besitzen, sodass die Frage der Kalkulierbarkeit dieser Wirkungen hier besondere Brisanz besitzt. Daneben spielten aber auch Felder wie das Glücksspiel oder die soziale Formation des Rittertums eine Rolle, die seit dem Mittelalter Alternativkonzepte zum Risiko herbrachten: Hasard und Abenteuer.
Dabei gilt es freilich zu beachten, dass die erwähnten Felder in praxi nicht immer klar voneinander abgegrenzt waren, etwa wenn Wetten auf den Ausgang von Pferderennen im spätmittelalterlichen Italien von denselben Kaufleuten angenommen wurden, die Schiffsladungen versicherten und die diese Wetten gemeinsam mit den Versicherungen in denselben Konten ihrer Rechnungsbücher verbuchten. Doch wirft gerade dies die Frage nach Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen sozialen Feldern und ihrer Wahrnehmung und Praktiken der Bewältigung von Risiken auf.

Programm

Donnerstag, 30. März 2017
15:45 Uhr Begrüßung durch Prof. Dr. Susanne Lepsius (Historisches Kolleg)

16:00 Uhr Benjamin Scheller (Duisburg-Essen/München): Einführung

16:30 Uhr Steffen Patzold (Tübingen): Known Unknowns. Wissen über Risiken und Zurechenbarkeit von Entscheidungen im frühen Mittelalter

18:00 Uhr Susanne Reichlin (München): Sexuelle und ökonomische Risikophantasien in spätmittelalterlichen Mären

Freitag, 31. März 2017
9:00 Uhr Arndt Brendecke (München): Zur Semantik und Ökonomie des Risikos in der spanischen Conquista

10:00 Uhr Marina Münkler (Dresden): Figurationen und Narrative von Risiko in der Frühen Neuzeit

11:00 Uhr Kaffeepause

11:30 Uhr Wolfgang Wagner (Münster): „Ein bisschen Zufall“? Losverfahren an der mittelalterlichen Universität

12:30 Uhr Mittagspause

14:30 Uhr Gabriela Signori (Konstanz): „Risikominimierung“ im städtischen Kreditwesen des 15. Jahrhunderts

15:30 Uhr Martin Clauss (Chemnitz): Zwischen Absicherung, Kalkül und Heldentum: Krieg und Risiko im Spätmittelalter

16:30 Uhr Kaffeepause

17:00 Uhr Albrecht Cordes (Frankfurt am Main): Abenteuer: Schicksal oder Kalkül?

18:00 Uhr Hiram Kümper (Mannheim): War die Frühe Neuzeit eine abenteuerlose Zeit? Etappen der Konzeptgeschichte von Abenteuer und Risiko

Samstag, 1. April 2017
9:00 Uhr Gerrit Schenk (Darmstadt): Die Zukunft zähmen? Deutungs- und Handlungsmuster beim Umgang mit Naturrisiken in der Renaissance aus begriffsgeschichtlicher und lebensweltlicher Perspektive

10:00 Uhr Cornel Zwierlein (Bochum): Versicherungsbetrug durch frühen Tod. Das Reichskammergericht und die Lebensversicherung (1755 bis 1770)

11:00 Uhr Kaffeepause

11:30 Uhr Christian Jaser (Berlin): Merkur, Fortuna und San Giovanni – Pferderennen, Wetten und merkantiles Kalkül im Florenz der Renaissance

12:30 Uhr Gerhard Fouquet (Kiel): Abschlusskommentar
anschließende Abschlussdiskussion

ca. 13:30 Uhr Ende der Tagung

Kontakt

Elisabeth Hüls

Historisches Kolleg
Kaulbachstr. 15, 80539 München

elisabeth.huels@historischeskolleg.de

http://www.historischeskolleg.de