»Volksgemeinschaft« als Geschlechtergemeinschaft. Historische Semantik und soziale Praxis

»Volksgemeinschaft« als Geschlechtergemeinschaft. Historische Semantik und soziale Praxis

Veranstalter
Bd. 34 der » Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus« herausgegeben von Klaus Latzel, Elissa Mailänder und Franka Maubach
Veranstaltungsort
Ort
Braunschweig, Jena, Paris
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.02.2017 - 21.05.2017
Deadline
21.05.2017
Website
Von
Elissa Mailänder

In den letzten zehn bis 15 Jahren wurde der Ort von Frauen in der NS-Gesellschaft bzw. während des Zweiten Weltkriegs in zahlreichen Studien ausgelotet und dabei insbesondere die Frage nach weiblichem Mitmachen und Widerstehen erforscht. Daneben hat eine kritische Männlichkeitsforschung vermeintlich selbstverständliche Bilder soldatischer Männlichkeit aus der Gewaltgeschichte des Zweiten Weltkriegs herausgelöst und untersucht. Gleichwohl haben sich beide Forschungsstränge bislang – obwohl unter dem gemeinsamen Dach der Geschlechtergeschichte – hauptsächlich mit Frauen und Männern ›unter sich‹ beschäftigt.

Eine geschlechterintegrierte Perspektive jedoch, die explizit und systematisch heterosexuelle Geschlechterrelationen fokussiert und dabei die Frage zwischen- und intrageschlechtlicher Machtbeziehungen analysiert, steht noch weitgehend aus. Für den 34. Band der »Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus« laden wir HistorikerInnen, Kultur- und SozialwissenschaftlerInnen ein, »Volksgemeinschaft« als Geschlechtergemeinschaft empirisch zu hinterfragen und damit die Forschungen zu Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen zusammenzudenken und weiterzuführen.

Ins Zentrum der Aufmerksamkeit treten dabei sowohl die ideologischen Konzeptionen der nationalsozialistischen Geschlechterordnung, als auch die sozialen Aneignungen im Gefüge konkreter Gemeinschaftsentwürfe und Interaktionen von Männern und Frauen. »Volksgemeinschaft« verstehen wir dabei als eine gedachte und gelebte Ordnung, denn der Quellen- und Propagandabegriff lässt sich nicht auf ein realitätsfernes politisches Konstrukt reduzieren. Als gelebte Praxis hat die rassistisch aus- bzw. eingrenzende Gesellschaftsordnung eine erfahrungsgeschichtliche Dimension, die beide Geschlechter einbezog. Die rassistische Praxis sozialer Ungleichheit, die wiederum konkrete Vorteile und Privilegien für die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft mit sich brachte, richtete das Verhältnis von Männern und Frauen neu aus. Hier gilt es, den Stellenwert der Kategorie Geschlecht in Wechselwirkung mit Kategorien wie »Rasse«, Religion, Klasse oder Generation zu erkunden.

Wir möchten die AutorInnen dezidiert auffordern, die historischen Semantiken mit den sozialen Praktiken zusammen zu denken: Welche gesellschaftlichen und historischen Dynamiken setzten diese gedachten wie gemachten Ordnungen der Zweigeschlechtlichkeit frei? Welche Handlungsräume und Rollen standen deutschen, nichtjüdischen Frauen und Männern zur Verfügung, und wie entwickelte die NS-Geschlechtergemeinschaft ihr rassistisches Potenzial?

1. Historische Semantik
Während die historische Semantik und Pragmatik von »Volksgemeinschaft« für den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik bereits gut untersucht ist, erscheint die Forschungslage für den Nationalsozialismus noch defizitär. Beide Komponenten des Begriffs, »Volk« und »Gemeinschaft«, adressieren in zeitgenössisch positiver und moralisch aufgeladener Weise das Verhältnis der Geschlechter. An die Stelle einer (ideologisch stets als westlich diffamierten) anonymen Gesellschaft tritt die über die einzelne Familie hinausreichende, blutsverwandtschaftliche »Sippe« der »Volksgenossen« und der Geschlechter im doppelten Wortsinne. Beide Teile des Kernbegriffs artikulieren die reproduktive und emotionale Qualität der Familie als Keimzelle der »Volksgemeinschaft«; darin mag eine subtile und gleichzeitig elementare Attraktion des Begriffs gelegen haben. Es gilt, die historische Semantik zu hinterfragen und die unterschiedlichen Bedeutungsinhalte von Weiblichkeit und Männlichkeit empirisch zu analysieren: Wie wurden Männlichkeit und Weiblichkeit in der Ideologie der »Volksgemeinschaft« verortet und zusammengedacht? Wann waren und wodurch wurden die Rede- und Deutungsweisen zwischengeschlechtlicher Beziehungen sexuell aufgeladen – und wann nicht? In welchem Zusammenhang stand dies mit Vorstellungen sozialer oder »rassischer« Ungleichheit etwa in den eroberten Gebieten? Wie und in welchen Kontexten bildeten sich hierarchisierte Männlichkeitsvorstellungen heraus? Gab es im Connell‘schen Sinne in der historischen Semantik neben der »hegemonialen Männlichkeit« auch alternative Männlichkeitsentwürfe? Wurde der dominierenden Männlichkeit symmetrisch eine dominante Weiblichkeit an die Seite gestellt? Und welche historischen Kontexte sind zu entschlüsseln, welche Diskurse zu verfolgen, um diese Semantik an der Schnittstelle von Geschlechtergemeinschaft, rassistischem Denken und politischer Bewegung zu entziffern?

2. Soziale Praxis
Aus der Perspektive einer historischen Praxeologie wollen wir gleichzeitig nach den individuellen Aneignungen und ihren Ambivalenzen fragen, die der Begriff »Volksgemeinschaft« in verschiedenen Erfahrungs- und Handlungszusammenhängen erfuhr. Analysiert werden sollen Alltagskonzeptionen, -praktiken und -funktionen zwischengeschlechtlicher Gemeinschaft in ihren unterschiedlichen Kontexten: Welche Vorstellung machten sich nichtjüdische Männer und Frauen von zwischengeschlechtlicher Gemeinschaft; wie lebten sie Liebe, Ehe und »Kameradschaft«? Wie entwickelten sich die Beziehungen von nichtjüdischen Frauen bzw. Männern zu jüdischen bzw. nichtdeutschen Männern und Frauen? Wie ermöglichten, stabilisierten oder untergruben Geschlechter-ordnungen die rassistische Gesellschaft und nationalsozialistische Vernichtungspolitik im Krieg? Als wie zählebig erwiesen sich traditionelle, religiöse oder schichtenspezifische Ordnungsmodelle von Geschlechterverhältnissen in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«? In welchen Zusammenhängen gerieten verschiedene Geschlechtermodelle in Konflikt zueinander? Welche (asymmetrischen) Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern, welche Handlungsräume lassen sich beschreiben? Und welche Relevanz kann ihnen zugesprochen werden?

Im Fokus des Bandes steht somit die Analysekategorie Geschlecht, ohne dabei die Wechselwirkungen zwischen race, class und gender zu vernachlässigen. Über den Gender-Fokus hinaus ist die Erforschung von Geschlechterbeziehungen in der NS-Gesellschaft und der daraus entstehenden Dynamiken für die allgemeine NS-Geschichte relevant, weil sie dazu beitragen kann, die Kohäsionskräfte, das Durchhalten und Weitermachen im Krieg, die Mobilisierungskräfte für die nationalsozialistische Verfolgungs- und Mordpolitik und ihre Durchführung besser zu verstehen.

Bitte übermitteln Sie uns bis zum 21. Mai 2017 ein Exposé (5000 Zeichen), in dem Sie Fragestellung und Quellengrundlage Ihres Beitragsangebots skizzieren, sowie ein kurzes CV. Abgabetermin der Manuskripte (60.000 Zeichen inklusive Leerzeichen und Fußnoten) ist der 15. Januar 2018. Der Band wird im September 2018 erscheinen.

Dr. Klaus Latzel, Institut für Geschichtswissenschaft der TU Braunschweig
Dr. Elissa Mailänder, Sciences Po Paris, Centre d’Histoire de Sciences Po (CHSP) (elissa.mailander@sciencespo.fr)
Dr. Franka Maubach, Jena Center, Friedrich-Schiller Universität Jena

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