Juden und ihre Nachbarn. Wissenschaft des Judentums im Kontext von Diaspora und Migration. V. Jahrestagung des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg (ZJS)

Juden und ihre Nachbarn. Wissenschaft des Judentums im Kontext von Diaspora und Migration. V. Jahrestagung des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg (ZJS)

Veranstalter
Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg; Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder); Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien; Kerstin Schoor / Annette Werberger (Europa-Universität Viadrina/ZJS); Werner Treß (Moses Mendelssohn Zentrum/ZJS)
Veranstaltungsort
Ort
Frankfurt an der Oder
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.11.2017 - 08.11.2017
Deadline
28.04.2017
Von
Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg

„Aber darum bleibt es nicht minder wahr, daß jede Wissenschaft nicht bloß auf andere Wissenschaften, sondern auch auf das Leben den bedeutendsten Einfluß übt, was dann auch von der Wissenschaft des Judenthums gar leicht nachzuweisen seyn wird.“

Immanuel Wolf: Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums (1822)

Mit der Gründung des Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg im Jahr 2012 wurde im Berlin-Brandenburger Raum erstmals in der deutschen Geschichte eine Einrichtung geschaffen, in welcher fünf große Universitäten mit ihren verschiedenen Forschungseinrichtungen das Thema Judentum zu einem integralen Bestandteil ihrer akademischen Forschung und Lehre machten und sich in öffentlichen Veranstaltungen diesem Thema gemeinsam widmen. Nachdem im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Bestrebungen jüdischer Intellektueller, eine sich im Kontext der Moderne um 1818/19 entwickelnde Wissenschaft des Judentums in Gestalt einer inneruniversitären Einrichtung zu etablieren, am deutschen Antisemitismus der Zeit gescheitert waren, hinterließen Vertreibung und Genozid im jüdischen Leben Deutschlands schließlich eine nicht zu schließende Leerstelle auch im akademischen Leben. Das ZJS fühlt sich damit ideell auch den Aktivitäten einer bedeutenden akademischen Einrichtung verbunden, deren Implementierung in das deutsche Universitätssystem im Berlin-Brandenburger Raum historisch immer eine Aufgabe blieb: der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (1872–1942).
Dabei war die Herausbildung einer jüdischen Wissenschaftsbewegung, die von der Haskala des späten 18. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm und sich im 19. Jahrhundert in der Wissenschaft des Judentums wie in den Aktivitäten der Berliner Hochschule manifestierte, in vielfacher Hinsicht mit einer allgemeinen Transformation der Wissensordnung verknüpft, die ihren Impuls von der Aufklärung erfahren hatte und die sich im 19. Jahrhundert an den europäischen Universitäten und in anderen Einrichtungen vollzog. Sie fand schließlich im gesamten Spektrum sowohl der traditionellen als auch der neu entstehenden Wissenschaftsdisziplinen sowie in Literatur und Kunst vielfältigen Ausdruck.
Forschungen der vergangenen Jahrzehnte haben sich verschiedenen Facetten der Geschichte der Wissenschaft des Judentums und ihrer Protagonisten bereits gewidmet (so u.a. Glatzer 1964, Reissner 1965, Wilhelm (Hg.) 1967, Michael A. Meyer 1971, Carlebach (Hg.) 1992, Schorsch 1994 und 2016, Livneh-Freudenthal 1996, Wiese 1999, Brämer 2000, von der Krone 2012, Thulin 2012). Die V. Jahrestagung des ZJS will als Beitrag zu diesem Diskurs Fragen zur Entwicklung der Wissenschaft des Judentums und ihrer Wirkungen in der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, in Literatur und Kunst bis in die Jüdischen Studien der Gegenwart aus der Perspektive von Diaspora und Migrationsprozessen in Mittel- und Osteuropa zentral stellen. Dabei sollen die häufig auf prozessuale Vorgänge von Differenzerfahrung gerichteten Begriffe von ‚Diaspora’ und ‚Migration’, mit denen wir traditionell Vorgänge der Anpassung, des Austauschs und der Abgrenzung zwischen verschiedenen religiös, kulturell oder ethnisch definierten Minderheiten und der sie umgebenden ‚Hegemonialgesellschaft’ theoretisch erfassen (vgl. u.a. M. Rürup: Praktiken der Differenz, 2009), mit dem theoretischen Konzept der ‚Nachbarschaft’ für die Untersuchung von Gemeinsamkeiten in den unterschiedlichen Kulturen Mittel- und Osteuropas kombiniert werden. Die Suche nach differenten „Ähnlichkeiten“ und den normativen Kontexten eines geteilten Alltags und einer gemeinsam gestalteten oder neu erfahrenen Lebenswelt soll den Blick deutlicher auf Parallelen und Analogien in Wissensentwicklung, Kunst und Literatur lenken und diese bisherigen Forschungen zu Differenzerfahrungen und Kulturkonflikt zur Seite stellen. Auf diese Weise sollen schließlich am Beispiel der Entwicklung der Wissenschaft des Judentums und deren weitreichender Wirkungen die vielfältigen Elemente einer gemeinsamen, verflochtenen Geschichte der jüdischen und nicht-jüdischen Kulturen Europas offengelegt werden.
Für die interdisziplinär ausgerichtete Konferenz suchen wir nach Beiträgen insbesondere im thematischen Rahmen der folgenden Schwerpunkte:

1. Nachbarschaft und Migrationsprozesse bei der Entstehung und Entwicklung der Wissenschaft des Judentums
Da die Angehörigen von transterritorialen Diaspora-Bevölkerungen traditionell eine wichtige Rolle als kulturelle Mittler spielen, nicht selten auch im Zusammenspiel mit Mitgliedern anderer Diasporas (vgl. Brinkmann 2010), soll die Wirksamkeit dieser spezifisch jüdischen Erfahrung nachbarschaftlichen Zusammenlebens in einem Vielvölkerkontext sowie im Kontext von Migrationsprozessen auf ihre wissenschaftshistorische Relevanz hin untersucht werden: Sie reicht vom konkreten Beitrag mittel- und osteuropäischer Akteure bei der Bildung der Wissenschaft des Judentums bis hin zu ersten wichtigen Ansätzen der Migrationsforschung, von den Anfängen der Völkerpsychologie bis zur Prägung des Begriffs „Kulturpluralismus“ in den USA durch den in Schlesien geborenen Rabbinersohn Horace M. Kallen (vgl. Greene 2011) bis in die kulturellen Debatten und Zeugnissen der 1930er und 1940er Jahre im NS-Deutschland.
Die Verflechtung von universitärer und außeruniversitärer Forschung von Juden und zum Judentum (z.B. zwischen der in den Rabbinerseminaren praktizierten Wissenschaft des Judentums und der universitären Theologie, Orientalistik und weiteren neu entstehenden Disziplinen und Teildisziplinen u.ä.) wie jene in der jüdischen Bildungsbewegung (reformorientierter Schulen wie der Jüdischen Freischule in Berlin, u.a. Lazarus Bendavid, der Herzoglichen Franzschule in Dessau, u.a. Gotthold Samolom, Joseph Wolf, die Samson-Schule in Wolfenbüttel oder das Philanthropin in Frankfurt am Main, u.a. Michael Hess, Sigismund Stern, geraten dabei ebenso in den Blick wie institutionelle Verflechtungsgeschichten, also Fragen nach typologischen oder genetischen Verbindungen zwischen bekannten jüdischen und nicht-jüdischen wissenschaftlichen Institutionen, Seminaren oder Akademien. Darunter v.a. der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (1819) das Jüdische Theologisches Seminar der Fränckel’schen Stiftung in Breslau (1854), die Hochschule (Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judentums in Berlin (1872); das Rabbinerseminar zu Berlin (1873), das Rabbinerseminar in Budapest (1877), das YIVO-Institut (Yidisher Visnshaftlekher Institut) in Vilnius (1925) oder die Gründung der Hebräischen Universität Jerusalem (1918) u.a.

2. Verflechtungsgeschichten zwischen Wissenschaft, Kunst und Literatur
Verstand sich der traditionelle jüdische Denker „als ein Teil der Traditionskette, zu der er ebenso wie das Material der Vergangenheit gehörte, aus welchem er eine für seine Gegenwart gültige, lebende Entscheidung treffen konnte“ (Moshe Graupe 1977), wird die Vergangenheit ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer mehr zu einem Objekt der Forschung (Schorsch 1994). Die Verwissenschaftlichung und Historisierung jüdischen Lebens und jüdischer Praxis beginnt mit dem Ende jüdischer Autonomie in den Kontinentalimperien. Die stark ethnographische Ausrichtung vieler Werke der Zeit verweist dabei auf zeitgleiche Interessen in Wissenschaft und Literatur. Die Völkerpsychologen und Literaten beispielsweise teilen sich „aufgrund ihrer Stoffwahl“ ein gemeinsames Interesse am neu entdeckten ‚Volk‘ (Twellmann 2014). Auch im Russischen Reich lässt sich diese Verbindung zwischen Populismus (Narodničestvo), ethnoliterarischen Texten zum Shtetl und der institutionellen Entwicklung von Ethnologie etwa bei S. Anskij oder Y. L. Perets wiederfinden. Die objektiv-distanzierte Beschreibung jüdischer Sitten und Gebräuche, wie sie schließlich in L. Komperts frühen Schilderungen der „böhmischen Gasse“ sichtbar wird sowie eine stark kulturhistorische Ausrichtung vieler Werke, haben in der Berührung damaliger Entwicklungen der Wissenschaft mit denen der Literatur einen ihrer wesentlichen Ursprünge. Berthold Auerbach formuliert bereits 1837 seiner Vorrede zum Spinoza-Roman den Gedanken der Entstehungsgeschichte eines Genres als einer doppelten Transformationsgeschichte – zwischen jüdischer Tradition und Emanzipationsbewegung sowie einem sich entwickelnden modernen Geschichtsbewusstsein und dessen Verschränkung mit literarischen Entwicklungen – nachdrücklich ein. Die Entstehung wissenschaftsinspirierter Genres in Kunst und Literatur kann in diesem Sinne als Beispiel für die in diesem Schwerpunkt zentral gestellte Frage nach Verflechtungsgeschichten zwischen Wissenschaft, Literatur und Kunst angesehen werden.

3. Ausblick: Von der Wissenschaft des Judentums zu den Jüdischen Studien

Die Jüdischen Studien sind heute wie andere Studien, die regionale, kulturelle, ethnische oder religiösen Schwerpunkte besitzen, interdisziplinär angelegt. Sie stehen damit in der Tradition der Wissenschaft des Judentums und waren vielfach Vorbild für andere Cluster-Forschungsfelder an Universitäten. In diesem Schwerpunktbereich soll es darum gehen, den Beitrag der Jüdischen Studien zur Allgemeinen Wissenschaftsgeschichte und der Entwicklung unterschiedlicher Disziplinen genauer zu untersuchen. Dabei soll es weniger um die grundsätzliche Frage nach der Relation von Universalisierung und Partikularität gehen, sondern um die Epistologie wissenschaftlicher Praktiken, die Genese methodischer Verfahren und Konzepte und den Austausch theoretischer Ansätze. Welche Bedeutung haben insbesondere die Erfahrungen einzelner Forscher/innen aus den Kontinentalimperien für die Entstehung von Disziplinen (Völkerrecht und R. Lemkin; Wissenschaftsgeschichte und L. Fleck, Soziologie usf.)? Gibt es tatsächlich ein stärkeres Interesse an Folklore und Ethnologie im östlichen Europa? Welche Folgen hatten und haben vorhandene Rahmungen einzelner Methoden und Disziplinen auf die Wissenschaft des Judentums? Inwieweit wirkt und wirkte Jüdische Geschichte und Wissenschaft heute auf die neu etablierten Studien und Forschungsentwicklungen, die die Präfixe „trans-“, „global-„ oder „welt-„ im Namen führen (Globalgeschichte, Weltliteratur, Transkulturalität)? Welche Praktiken und Denkweisen innerhalb der Wissenschaften des Judentums gelangten (nicht) nach Übersee und wie wurden sie dort in anderen kulturellen Kontexten aktiviert?

Wir bitten Sie, Ihre Bewerbung bestehend aus dem Thema, einem Abstract mit max. 500 Wörtern und einem kurzen CV bis 28.04.2017 per Email unter folgender Adresse einzureichen: m.schaertl@zentrum-juedische-studien.de

Kontakt:

Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg
Dr. Monika Schärtl
Wissenschaftliche Koordinatorin
Sophienstraße 22 a
10178 Berlin

Mail: m.schaertl@zentrum-juedische-studien.de
Web: http://www.zentrum-juedische-studien.de

Programm

Kontakt

Monika Schärtl

Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, Sophienstraße 22 a, 10178 Berlin

m.schaertl@zentrum-juedische-studien.de

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