Es fehle ihr an Welthaltigkeit und Erfahrungsreichtum, an Genie und Esprit, sie lasse die altehrwürdige Literatur zur öden Bauchnabelschau verkommen und überhaupt sei Schreiben an einer Universität gar nicht lehrbar. Im Begriff der ‚Institutsprosa‘ schwingen Vorurteile und Vorbehalte gegen Literatur, die an einer sogenannten Schreibschule entstanden ist, bereits mit. In den letzten Jahren sind Ausbildungspraktiken, Funktion und Selbstverständnis deutschsprachiger Literaturinstitute in Betrieb und Feuilleton immer wieder diskutiert worden – und zwar meist unter negativen Vorzeichen. Am medienwirksamsten entfaltete sich 2014 die sogenannte Kessler-Debatte, welche im Feuilleton allzu vorschnell auf den Vorwurf verkürzt wurde, die deutsche Gegenwartsliteratur sei „brav und konformistisch“. Ähnliche Diskussionen kennzeichneten auch die Geschichte der US-amerikanischen Creative Writing Programs. Eine Phase mangelnder Akzeptanz haben diese Studiengänge allerdings schon hinter sich gelassen und mittlerweile den Status flächendeckender Verbreitung erreicht. Im Vergleich zu ihren amerikanischen Vorreitern verzeichnen die entsprechenden Institute hierzulande eine bedeutend kürzere Traditionsgeschichte und eine geringere Ausbreitung.
Während in den USA die institutionalisierte Ausbildung von SchriftstellerInnen nach 1945 zu einem beherrschenden Faktor der Produktion von Literatur geworden ist, haben Schreibschulen in Deutschland erst in den letzten 20 Jahren Bedeutung erlangt. Auf die Gründung des Deutschen Literaturinstituts Leipzig 1995 (in Nachfolge des Johannes R. Becher-Instituts) folgte 1999 die Einrichtung des Studiengangs „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ in Hildesheim, 2006 kam das Schweizerische Literaturinstitut in Biel hinzu. Die Institute erfreuen sich mittlerweile allerdings großer und wachsender Beliebtheit: Die Schreibschulen in Hildesheim und Leipzig bekommen jährlich etwa 600 Bewerbungen; an der Kunsthochschule für Medien in Köln wird gerade ein neuer Studiengang für kreatives Schreiben eingerichtet. Auch wenn im deutschsprachigen Raum noch keine ‚amerikanischen Verhältnisse‘ herrschen: ‚Institutsprosa‘ ist längst integraler Bestandteil der Gegenwartsliteratur.
Die Schreibinstitute strukturieren in ganz konkreter Weise zentrale Institutionen des Literaturbetriebs um: Die kreativen Studiengänge bereiten nicht ausschließlich auf eine Karriere als SchriftstellerIn vor, sondern ermöglichen durch ihre Kombination mit Journalismus, Übersetzung oder Kulturwissenschaft auch alternative Karrierewege im Umfeld der Literatur. Nach dem nunmehr ca. 20-jährigen Bestehen der Institute in Hildesheim und Leipzig besetzen inzwischen eine ganze Reihe von AbsolventInnen Schlüsselpositionen in Verlagen, Redaktionen und der Wissenschaft.
Die Institutionalisierung der Ausbildung von AutorInnen und die Herausbildung des „kreativen Schreibens“ als Disziplin verweist darüber hinaus auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge. Der Aufstieg der Schreibschulen steht in engem Zusammenhang mit der Herausbildung eines „Kreativitätsdispositivs“ (Reckwitz) in der Gegenwartsgesellschaft.
Sowohl hinsichtlich ihres Beitrags zu zeitgenössischen Schreibverfahren als auch bezüglich ihrer Bedeutung für den Literaturbetrieb sind die Literaturinstitute allerdings bislang noch nicht hinreichend analysiert worden. 2009 betonte Mark McGurl mit seiner Studie „The Program Era“ erstmals den maßgeblichen Einfluss akademischer Creative Writing Programs auf die US-amerikanische Nachkriegsliteratur. Vor allem im deutschsprachigen Raum bleibt die Erforschung von Schreibschulen aber bis heute ein drängendes Desiderat der Gegenwartsliteraturwissenschaft. Die „Schreibszene Frankfurt“ möchte deshalb zu einer ersten Erschließung des Themas beitragen, indem sie LiteraturwissenschaftlerInnen, Schlüsselfiguren des Literaturbetriebs und Akteure der Schreibschulen zu einer Tagung einlädt, die, wie die Institute selbst, an der Schnittstelle zwischen Akademie, Literaturbetrieb und literarischer Praxis angesiedelt ist.
Im Fokus der Betrachtungen sollen sowohl literatursoziologische als auch ästhetische Fragen stehen, die sich grob in vier Bereiche unterteilen lassen:
Schreibschulen im Literaturbetrieb
In welcher Beziehung stehen die Institution Schreibschule und das literarische Feld? Wie wirkt der Literaturbetrieb – in Form von Nachwuchspreisen, Dozierenden aus der Praxis, kulturjournalistischen Seminaren und Agenturen – auf die Karrierewege der SchreibschülerInnen aus? Und welchen Einfluss hat wiederum die Schreibschule – in Form von studentischen Projekten wie Literaturzeitschriften („BELLA triste“), Literaturfestivals („Prosanova“) und Anthologien („Tippgemeinschaft“) sowie in Form der Professionalisierung und Akademisierung der Karrierewege – auf den literarischen Betrieb? Wie positionieren sich AbsolventInnen im literarischen Feld, und welche Karrierewege schlagen sie ein?
Ästhetik und Poetik der ‚Institutsprosa‘
Welche Schreibverfahren werden in Schreibschulen gelehrt? In welchem Verhältnis stehen die vermittelten Ansätze zu anderen Poetiken und Ästhetiken der Gegenwartsliteratur? Welches Literaturverständnis wird in den Studiengängen vermittelt? Gibt es tatsächlich eine ‚Institutsprosa‘? Wenn ja, wodurch zeichnet sie sich aus? Welche Rolle spielen Lyrik und Drama?
Praxisformen und implizites Wissen
Welche Lehrformate und Arbeitsformen kommen in den Studiengängen zur Anwendung? Wie wird konkret an Texten gearbeitet? Welche Rolle spielt literaturwissenschaftliches und literaturtheoretisches Wissen in der Lehre? In welchem Verhältnis stehen Kreativität, Handwerk und Erfahrung (vgl. McGurl 2009)? Auf welche Weise schließlich bereiten die Studiengänge auf die Selbstvermarktung im aufmerksamkeitsökonomisch strukturierten Betrieb vor und welche Subjektformen werden ausgebildet? Welche Rolle spielen dabei genderspezifische Verhaltensweisen und Vermarktungsstrategien?
Kreatives Schreiben in der Gegenwartsgesellschaft
In welchem Verhältnis stehen die vermehrten Neugründungen von literarischen Schreibprogrammen mit der Herausbildung eines Kreativitätsdispositivs in der Gegenwartsgesellschaft (vgl. Reckwitz 2012)? Mit welchen Hoffnungen auf Selbsterfahrung bis Selbsttherapie wird die Ermächtigung zur literarischen Produktion aufgeladen, während der Professionalisierung, Kommerzialisierung und Institutionalisierung des Schriftstellerberufs gleichzeitig Skepsis und Abwertung entgegenschlägt?