Kulturerbe als kulturelle Praxis – Kulturerbe in der Beratungspraxis

Kulturerbe als kulturelle Praxis – Kulturerbe in der Beratungspraxis

Veranstalter
Freistaat Bayern, vertreten durch das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (München) und das Institut für Volkskunde der Kommission für Bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (München) sowie die Beratungsstelle Immaterielles Kulturerbe Bayern, in inhaltlicher Kooperation mit der Gruppe der volkskundlichen Landesstellen und außeruniversitären Institute in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde
Veranstaltungsort
Bayerische Akademie der Wissenschaften, München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.01.2019 - 01.02.2019
Deadline
31.08.2018
Website
Von
Dr. Helmut Groschwitz

Kulturerbe hat nicht nur als Thema wissenschaftlicher Diskurse Konjunktur, sondern auch in Form verschiedener Programme und Konzepte. Die Konventionen der UNESCO, die Programme zum Europäischen Kulturerbe oder die Strukturen des Denkmalschutzes markieren das große politische und zivilgesellschaftliche Interesse an der zeitgenössischen Aneignung von tradiertem und vermitteltem Kulturerbe. Mit dem Beitritt Luxemburgs (2006), der Schweiz (2008), Österreichs (2009) und Deutschlands (2013) zum 2003 von der UNESCO verabschiedeten „Übereinkommen zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes“ verstärkt sich diese Entwicklung in den deutschsprachigen Ländern und rückt performative kulturelle Ausdrucksformen stärker in den Fokus. Die Ziele des Übereinkommens betreffen u.a. Identitätsstiftung und Sichtbarmachung immateriellen Kulturerbes, einen Ausgleich zu den Ungleichgewichten des Welterbeprogramms (1972) sowie den Schutz von als bedroht wahrgenommenen traditionalen Ausdrucksformen.

Im Rahmen der Vorbereitungen für das UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des immateriellen Kulturerbes von 2003 und der Beitritte gab es eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit den Konzepten, Strukturen und Paradoxien der Kulturerbeprogramme, die zunächst besonders stark in den volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Fächern ausgetragen wurde. Diese nötige kritische Reflexion steht häufig im Kontrast zu den alltäglichen Praktiken jener, die die kulturellen Ausdrucksformen ausüben. Das betrifft u.a. den Einfluss des Bewerbungs- und Auszeichnungsverfahrens auf die als immaterielles Kulturerbe markierten Praktiken, die politischen Instrumentalisierungen und Kommodifizierungen bis hin zu den Ambivalenzen des Identitätsbegriffs. Kritisch zu betrachten sind auch die Rückkehr wissenschaftlich überholter Konzepte von „Volkskultur“, „Brauchtum“ sowie dem Aufleben der „Mythologischen Schule“ (mit dem teilweisen Aufgreifen von völkischen und nationalsozialistischen Theoremen) in Festen und Bräuchen. Hinzu kommen die komplexen Aushandlungsprozesse in Bezug auf „contested cultural heritage“, etwa mit postkolonialen und migrations- bzw. genderpolitischen Ausrichtungen.

Der Weg zum begehrten Titel „Immaterielles Kulturerbe“ im Rahmen des Umsetzungsverfahrens des UNESCO-Übereinkommens führt über ein Bewerbungsverfahren, das den Antragstellenden eine intensive Selbstreflexion abverlangt. Die Bewerbung stellt eine deutliche Hürde dar, weswegen, in Abweichung zu dem in Deutschland angestrebten „Bottom-up“-Verfahren, zahlreiche Mittelspersonen und Institutionen in den Prozess involviert sind: Verbände und Vereine, Museen und Landesstellen, Beratungsstellen und Agenturen. Dabei baut das Immaterielle Kulturerbe auch auf vorhandenen Strukturen zur Kulturförderung und -reflexion auf.

Das Feld des Immateriellen Kulturerbes erlaubt jenseits aller Kritik aber auch einen neuen vermittelnden Zugang, es erfordert und bietet die Möglichkeit für Übersetzungsleistungen, Wissensvermittlungen und Bewusstseinsbildungen sowie Vernetzungen zwischen den verschiedenen Akteuren. Insbesondere für die Schnittstellen von Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft eröffnen sich für alle Seiten gewinnbringende Kooperationen. Die geplante Tagung möchte diese Felder näher ins Auge fassen – sie richtet sich dabei an alle, die mit Fragen der Umsetzung des Übereinkommens zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes sowie mit Kulturerbeberatung allgemein betraut sind bzw. sich akademisch damit auseinandersetzen. Dabei möchte die Tagung auch über das bundesdeutsche Umsetzungsverfahren und die damit verbundenen Strukturen hinausgehen, einen internationalen Austausch ermöglichen und allgemeine Aspekte des praktischen Umgangs mit Kulturerbe beleuchten. Mögliche Fragestellungen sind hierbei:

- Welche Rolle spielen das Bewerbungsverfahren und die Auszeichnung für die Ausübenden der kulturellen Ausdrucksformen? Welche emotionalen Aspekte sind damit verbunden?
- Welche Motive für die Bewerbung werden genannt, worin besteht die „hidden agenda“ der Bewerber? Wie wird jeweils das Konzept des „Kulturerbes“ interpretiert?
- Welche Probleme bereiten die aktuellen Bewerbungsverfahren und wie lassen sich diese lösen? Welche Empfehlungen ergeben sich aus Sicht der Kulturerbepraxis?
- Wie lassen sich die strukturellen Benachteiligungen von potentiellen Bewerbern mit nur geringem Organisationsgrad ausgleichen?
- Wie verändert der Bewerbungsprozess das Handeln der Akteure und die Deutungen des eigenen Tuns?
- Welche Rolle spielen Agenturen der Kulturerbeberatung (Ministerien, Wissenschaftler, Landesstellen, Beratungseinrichtungen, Agenturen) bei den Formierungen der Bewerbungen und der kulturellen Ausdrucksformen?
- Welche „Leerstellen“ weisen die Listen aktuell auf und wie lassen sich jene ansprechen und aktivieren, die sich in der bisherigen Darstellung noch nicht wiederfinden bzw. nicht angesprochen fühlen?
- Wie kann in der Beratungspraxis dem Wiedererstarken überholter Konzepte von „echt“, „traditionell“, „ursprünglich“ etc. begegnet werden?
- Was bedeuten die explizit identitätspolitisch ausgerichteten Ziele der Konvention für moderne Phänomene von kultureller wie sozialer Verortung und/oder Distinktion?
- Wie lassen sich rassistische, sexistische oder exkludierende Aspekte kultureller Ausdrucksformen konstruktiv benennen und verhandeln?
- Welchen Nutzen hat Folgeforschung bei den Nominierten für die Beratungspraxis?
- Welche gesellschaftlichen Entwicklungen und Bedürfnisse lassen sich anhand der Konjunktur des Kulturerbes erkennen?

Proposals für einen ca. 20-minütigen Vortrag (Zeitfenster mit Diskussion 30 Minuten) im Umfang von max. 4.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) sowie eine Kurz-Vita und Kontaktdaten werden bis 31.8.2018 erbeten an: groschwitz@volkskunde.badw.de bzw. wolf@volkskunde.badw.de

Tagungssprache ist deutsch, englischsprachige Beiträge sind möglich.

Die Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.

Programm

Kontakt

Helmut Groschwitz

Institut für Volkskunde
Barer Str. 13, 80333 München
089 – 5155 613

groschwitz@volkskunde.badw.de