Die Erfindung der Schrift, sagt Claude Lévi-Strauss in den „Traurigen Tropen“, scheine „die Ausbeutung der Menschen zu begünstigen, lange bevor sie ihren Geist erleuchtet“. Der „erste und stets wichtigste Zweck“ der Schrift, schreibt der Soziologe Michael Mann in seiner „Geschichte der Macht“, habe immer darin bestanden, „die beiden sich herausbildenden und ineinander verschmelzenden Autoritätssysteme in Gestalt von Privateigentum und Staat zu stabilisieren und zu institutionalisieren". Diese Diskursposition ist für die Hauptlinie kulturgeschichtlichen Denkens geradezu eine Selbstverständlichkeit. Schriftkultur führt aus dem Zustand der „Geschichtslosigkeit“ heraus, und die Geschichtswissenschaft löst die Ethnologie als zuständige Disziplin ab.
Wenn aber, wie Jack Goody argumentiert, die Abstraktionsleistung der Schrift bürokratische Herrschaft hervorbringt und missionierende Religionen ermöglicht, und wenn nach Walter Ong die Schriftlichkeit Besitz von der Psyche der Menschen ergreift – sind dann die Zumutungen der Herrschaft nach der Erfindung der Schrift unumkehrbar? Erstaunlicherweise liefert die Geschichte eine Fülle von Beispielen, in denen die Schrift einer ganz anderen Politologie folgt:
- Herrschaftsfreie Gesellschaften wie die Hanunoo-Mangyan (Philippinen) bedienen sich eines eigenständigen Schriftsystems mit einer spezifischen kulturellen Einbettung;
- Gesellschaften, welche die Königsherrschaft abgeschüttelt haben, ‚exkarnieren‘ (Jan Assmann) rechtliche Normen in schriftlich fixierten Gesetzbüchern;
- Unterdrückte Klassen nutzen Schrift als Kommunikationsmittel gegen ihre analphabetischen Herren, wie in den Rebellionen muslimischer Sklaven im brasilianischen Bahia in den 1830er Jahren;
- kriminelle Underdogs schließen sich auf der Grundlage egalitärer und radikaldemokratischer schriftlicher „Artikel“ zu Banden zusammen, wie die karibischen Piraten im 18. Jahrhundert;
- von der Schriftkultur Ausgeschlossene entwickeln eine eigene Geheimschrift, die von den Herrschenden gar nicht als Sinnträger wahrgenommen wird, wie bei der Frauen-Geheimschrift Nushu im kaiserlichen China;
- von der Herrschaft ausgeschlossene Gruppen nutzen schnelle, schwer kontrollierbare Distributionswege (Samisdat-Presse, Flugblätter, Soziale Online-Netzwerke) und „demokratische“ Schriftträger (Transparente, Graffiti), um die Herrschaft direkt zu kritisieren, oder sie wenden sich mit Petitionen direkt an die Herrschaftsträger.
Diesen und weiteren Praxen einer Schriftverwendung ‚von unten‘ wollen wir in einer Tagung nachspüren und diskutieren, ob sich gemeinsame Logiken oppositioneller Schriftverwendung herausarbeiten lassen. Die Beispiele hierfür können allen historischen Epochen und allen Regionen der Erde entnommen werden. Diese geschichtswissenschaftliche Tagung ist dezidiert interdisziplinär gedacht: Eingeladen sind Kolleg*innen aus der Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Anthropologie, Philosophie, Soziologie, Literaturgeschichte und Sprachwissenschaft.
Senden Sie Ihren Vorschlag für einen maximal 45minütigen Beitrag mit einem Titel und einer kurzen Inhaltsangabe (1-2 Seiten) bis zum 31. Juli 2019 zusammen mit Angaben zu Ihrer Person an ruediger.haude@rwth-aachen.de