"Hoch die internationale..."? Praktiken und Ideen der Solidarität. Tagung des Archivs für Sozialgeschichte

"Hoch die internationale..."? Praktiken und Ideen der Solidarität. Tagung des Archivs für Sozialgeschichte

Veranstalter
Friedrich-Ebert-Stiftung / Archiv für Sozialgeschichte
Veranstaltungsort
Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.10.2019 - 18.10.2019
Deadline
15.06.2019
Von
Philipp Kufferath

[English version below]

»Hoch die internationale…«? – Praktiken und Ideen der Solidarität

Eine Geschichte der »Solidarität«: Das klingt nach politischer Emphase und »guten Gefühlen«. Kaum ein Begriff der Gegenwart erscheint so oft gebraucht und politisch so entkernt wie »Solidarität« – eine Pathosformel, die einst das Selbstbewusstsein der Arbeiterbewegung beschrieb, inzwischen aber selbst von der politischen Rechten genutzt wird, wenn sie den völkischen Umbau des Wohlfahrtsstaats fordern.
Im Begriff der Solidarität spiegeln sich zentrale säkulare und religiöse Deutungen moderner Gesell-schaften. Vorstellungen von Solidarität verweisen auf die »moralische Ökonomie“ kapitalistischer Gesellschaften, auf die Erfahrungen lebensweltlicher Nähe und politischer und sozialer Konflikte. Doch was genau der Begriff beschreibt, ob er zugleich analytische Qualität bei der Beschreibung sozialer Handlungsformen besitzt, ist umstritten. Merkwürdigerweise spielte der Begriff innerhalb der Geschichtswissenschaften bislang kaum eine größere Rolle; nicht einmal die Arbeiterbewegungsgeschichte hat sich – mit wenigen Ausnahmen – damit umfassender beschäftigt. In den Nachbardisziplinen, allen voran in der Soziologie, hatte »Solidarität« dagegen immer eine deutlich größere Bedeutung, nicht zuletzt, weil sie mit im Zentrum der Arbeiten Émile Durkheims stand. In dem Begriff spiegeln sich Vorstellungen normativer Bindung und gegenseitiger Verpflichtung zwischen Gruppen und Akteuren, die vielfach partikular begründet werden und deren Geschichte voller Ambivalenzen steckt.
Eine Geschichte der Solidarität verweist also auf den Versuch, eine wichtige Form sozialen Handelns und einen zentralen gesellschaftlichen Steuerungsmodus zu beschreiben, der über die Idee von »Hilfe« und »Barmherzigkeit« hinausgeht. Mit Franz-Xaver Kaufmann lassen sich zum Beispiel vier unterschiedliche Begründungsformen von Solidarität unterscheiden: Loyalität, Altruismus, Reziprozität und kollektive Gemeinsamkeit. Zugleich ist der Begriff eben immer auch Teil politischer Utopien und moralischer Vorstellungen über »richtig« und »falsch«.
Wir laden Historikerinnen und Historiker sowie alle historisch arbeitenden Sozial- und Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ein, über Ideen und Praktiken der Solidarität vom 19. bis zum 21. Jahrhundert nachzudenken. Die Zugangsweisen und Themenfelder können dabei sehr unterschiedlich sein und von der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Wohlfahrtstaats, der Geschichte von Familien und alternativen Ökonomien bis zur gegenwärtigen Unterstützung für Geflüchtete reichen. Besonders willkommen sind dabei Beiträge, die Solidarität als eine Form sozialer Praxis beschreiben. Dabei können die Zugänge zu einer Geschichte der Solidarität sehr unterschiedlich sein. Denkbar sind etwa Beiträge zu folgenden Problemstellungen:

Solidarität in der Arbeitswelt
Eine Geschichte der Solidarität verweist auf unterschiedliche soziale Konflikte kapitalistischer Gesellschaften, die alle nicht neu sind, die es sich aber doch noch einmal neu zu durchdenken lohnt: Solidarität ist Teil der Geschichte von Streiks, von Arbeitsbeziehungen, von Mikropolitiken im Betrieb, der Rolle der Gewerkschaften. Der Begriff der »Solidarität« verweist in alltagsgeschichtlicher Perspektive auf die Praktiken der Arbeit, auf Formen von Nähe und Distanz im Produktionsprozess und die Selbstdeutung der Beschäftigten. Wie nahmen sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Verhältnis zu ihren Kolleginnen und Kollegen wahr? Was machte die Arbeit erträglich? Welche Folgen hatten Leistungsanforderungen, betriebliche Rationalisierungen oder gar globale Standortkonkurrenz? »Solidarität« kann dabei sowohl den Versuch zur kollektiven Organisation von Interessen beschreiben als auch ein primäres Gefühl des Zusammenhalts. Zugleich können Formen der Solidarität einen exkludierenden Charakter haben, dann beispielsweise, wenn deutsche und europäische Gewerkschaften gegen die Verlagerung von Betrieben oder gegen die Einfuhr spezieller Waren und Güter aus außereuropäischen Ländern stritten. Gerade im Spannungsverhältnis von Exklusion und Inklusion könnte ein besonderer Reiz des Solidaritätsbegriffs liegen.

Solidarische Hilfe und neuer »Humanitarismus«
Bezieht sich der Begriff »Solidarität« klassischerweise auf die Arbeiterbewegung und verschiedene religiöse Bewegungen, so ist er doch auch geeignet, andere Formen transnationaler sozialer Verbundenheit zu fassen. Die transnationale Dimension von Solidarität führt in das weite Feld organisierter Unterstützungsformen für Hungernde, Kriegswaisen, Geflüchtete oder politisch Verfolgte, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und sich in der Zwischenkriegszeit intensivierten. Zu dieser Geschichte gehört die geschlechtsspezifische Aufladung des Begriffs, der »Pflege« und »Hilfe« als weiblich, »Solidarität« dagegen als »männlich« deutete. Diese transnationalen humanitären Netzwerke als Ausdruck solidarischer Praktiken zu analysieren, erschließt jedoch ihre genuin politische Dimension. Zu fragen ist sowohl nach Formen der Selbstermächtigung als auch des widerständigen und transformatorischen Anspruchs der unterschiedlichen Akteure und Organisationen. Vorstellbar sind deshalb alle Beiträge, die nach den Motiven von Hilfe und Solidarität, nach der spezifischen Praxis sozialer Wechselseitigkeit fragen – und diesen Spuren bis zu den Debatten um die Dynamiken der »Willkommenskultur« nachgehen.

Alternative Ökonomien und Lebensweisen
Nicht nur für die »alte« Arbeiterbewegung, sondern auch für die Neuen sozialen Bewegungen spielte der Begriff der »Solidarität« eine zentrale Rolle. Neue transnationale Formen der Solidarität werden dabei genauso sichtbar wie nicht klassenspezifische Praktiken der Solidarität wie innerhalb der Frauenbewegung. Der Solidaritätsbegriff verweist zudem in das weite Feld der Auseinandersetzung um »solidarische« Produktionsformen, betriebliche Kooperationen, Sharing Economy und Commons, die sich bewusst spezifischen Marktlogiken zu entziehen versuchen. Auch viele weitere Formen der Vergemeinschaftung wie zum Beispiel Sozialversicherungen, Konsumgenossenschaften, selbstorganisierte Wohnprojekte, Nachbarschaftshilfe und Urban Gardening werden mit Solidarität begründet. Aus historischer Perspektive wäre zu erörtern, welche Phänomene in den jeweiligen Kontexten als »unsolidarisch« klassifiziert werden und wie das Spannungsverhältnis von Identität und Solidarität reflektiert und ausgehandelt wird.

Konzepte und Semantiken der Solidarität
An Versuchen, den Solidaritätsbegriff theoretisch zu fassen, herrscht kein Mangel. Ist Solidarität das »Andere der Gerechtigkeit« (Jürgen Habermas), eine Form symmetrischer Wechselseitigkeit mit nicht-instrumentellem Charakter, die auf einem spezifischen Vertrauensvorschuss basiert, eine soziale Erfahrung, die Leiderfahrungen minimieren soll? Die unterschiedlichen philosophischen, politiktheoretischen und soziologischen Konzepte sollten jedoch für geschichtswissenschaftliche Forschung fruchtbar gemacht werden. Der Band ist deshalb offen für Versuche, den Solidaritätsbegriff theoretisch und begriffsgeschichtlich zu reflektieren und seine Bedeutung für die Geschichtswissenschaft zu vermessen. Das umfasst auch solche Beiträge, die sich mit dem Kampfbegriff der »Solidarität« beschäftigen und die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge des Begriffs in politischen und kulturellen Auseinandersetzungen (bis hin zum »Solidaritätszuschlag«) reflektieren.

Auf einer Tagung, die am 17./18. Oktober 2019 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn stattfinden wird, möchten wir ein Konzept für das hier skizzierte Rahmenthema des Archivs für Sozialgeschichte 60 (2020) entwickeln und mit eingeladenen Autorinnen und Autoren diskutieren. Wir freuen uns daher über Ihre Beitragsideen und Themenangebote. Einsendeschluss ist der 15. Juni 2019. Die Vorschläge sollten 3.000 Zeichen nicht überschreiten, sie können auf Deutsch oder Englisch zusammen mit einer Kurzbiografie eingereicht werden. Die ausgewählten Beiträge im Umfang von etwa 60.000 Zeichen können anschließend bis zum 15. Februar 2020 fertiggestellt werden.

Das Archiv für Sozialgeschichte wird herausgegeben von Kirsten Heinsohn, Thomas Kroll, Anja Kruke, Philipp Kufferath (geschäftsführend), Friedrich Lenger, Ute Planert, Dietmar Süß und Meik Woyke.

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»Long Live International …«? – Practices and Concepts of Solidarity

A history of solidarity: that sounds like political enthusiasm and a »feel good« approach. Hardly any other notion of the present is used as often and looks as politically empty as the concept of »solidarity« - a pathos formula that was once used to describe the self-consciousness of the labour movement, but is meanwhile also used by the political Right to support their demands for the völkisch restructuring of the welfare state.
The concept of solidarity mirrors pivotal secular and religious interpretations of modern societies. Ideas of solidarity refer to the »moral economy« of capitalist societies, to the experiences of affinity in tightly knit communities and to political and social conflicts. However, it is controversial what exactly the concept entails and whether it has analytical qualities to determine and define forms of social action. It is striking that the term »solidarity« plays hardly any role to speak of within historical research; even the history of the labour movement has mostly ignored it – apart from only a few exceptions. In related disciplines, notably in sociology, »solidarity« has always played a significantly greater role, particularly because it was one of the focal points of the works of Émile Durkheim. The term reflects the concepts of normative commitment and mutual obligation between groups and actors, which are often justified by vested interests, and whose history is fraud with ambivalences.
Thus, a history of solidarity attempts to describe an important form of social action and a central mode of societal steering that goes beyond ideas of »help« and »charity«. According to Franz-Xaver Kaufmann, four different types of justification of solidarity can be distinguished: loyalty, altruism, reciprocity and an orientation towards the common good. At the same time, the term is always also a part of political utopian and moral ideas about »right« and »wrong«.
We invite historians as well as all historically informed social and cultural scientists to reflect upon ideas and practices of solidarity from the nineteenth to the twenty-first century. Contributions may follow any methodological approach and refer to any topic area, including the history of the labour movement and the welfare state, the history of families and alternative economies as well as the current support of refugees. We particularly welcome contributions that discuss solidarity as a form of social practice. The approaches to a history of solidarity may vary and refer to one or more of the following aspects:

Solidarity in the world of work
A history of solidarity refers to different types of social conflicts within capitalist societies, which are all well-known but that are worth taking a new look at: solidarity is part of the history of strikes, of industrial relations, of micro-politics at the shop-floor level and of the role of trade unions within them. From a perspective of the history of everyday life, the term »solidarity« refers to practices of work, to forms of proximity and distance within the production process and to the self-interpretation of employees. How did workers perceive themselves in their relationship to their colleagues? What made their work bearable? Which consequences did performance requirements, the increasing rationalisation of factory operations and global competition over the allocation of factories have? »Solidarity« can describe both the attempt to organise collective interests and the primary feeling of togetherness. At the same time, forms of solidarity might have an excluding character, for instance when German and European trade unions fought against the relocation of factories or against the import of certain goods from non-European countries. Against this backdrop, the tension between exclusion and inclusion could be a particularly interesting aspect of the concept of solidarity.

Help in the spirit of solidarity and new »humanitarianism«
Traditionally, the term »solidarity« refers to the labour movement and various religious movements. However, it can also be applied to other forms of transnational social cohesion. The transnational perspective points to the broad field of organised aid operations for those suffering from acute famine, for war orphans, refugees and politically persecuted people, forms of intervention which have emerged since the late nineteenth century and intensified during the interwar-period. This approach includes gender-specifically charged connotations of the term: »care« and »aid« as »female«, and »solidarity« as a »male« practice. Analysing these transnational humanitarian networks as manifestations of practices of solidarity reveals their genuinely political dimension. In this context, forms of both self-empowerment and the aspiration to resist and to embark on transformative practice of different actors and organisations are worthwhile topics of investigation. We invite contributions that investigate motives of aid and solidarity as well as the specific practice of social reciprocity – including the debates on the dynamics of the »culture of welcome«.

Alternative economies and lifestyles
»Solidarity« plays a pivotal role not only for the »old« labour movement, but also for the new social movements (NSM). In this context, both new transnational forms of solidarity and non-class-specific practices of solidarity, for instance within the women’s movement, become evident. Furthermore, the concept of solidarity refers to contested topics such as »solidary« forms of production, cooperation in corporations, the »Sharing Economy« and Commons that deliberately abandon specific market logic. »Solidarity« serves as the justification for various other forms of communitarian practice such as social insurance schemes, co-operative associations, self-organised housing projects, neighbourhood help and urban gardening. In a historical perspective, it should be discussed which phenomena were perceived as showing a lack of solidarity, and how the charged relationship between identity and solidarity was reflected upon and negotiated in specific contexts.

Concepts and semantics of solidarity
There is no lack of attempts to theoretically define the concept of solidarity. Is solidarity »the other side of justice« (Jürgen Habermas), a form of symmetrical, non-instrumental reciprocity based on a specific investment of trust, a social experience to minimize suffering? The objective here is to make these different philosophical, political-theoretical and sociological concepts productive for historical research. We invite contributions that reflect the concept of solidarity theoretically and from the perspective of conceptual history, and chart its significance for historical research. This also includes contributions that examine solidarity as a polemical term and its different uses in political and cultural conflicts (culminating in debates on the »solidarity surcharge« to income tax in the Federal Republic in support of those who live in the territory of the former GDR).

In preparation of the Archiv für Sozialgeschichte 60 (2020), a workshop will take place at the Friedrich-Ebert Foundation in Bonn on 17/18 October 2019 with contributors to the volume. We invite all interested scholars to submit their ideas and proposals for papers – please no more than 3,000 characters – and a short bio that should reach the editors by 15 June 2019. Abstracts can be submitted in either German or English. Contributions that will be accepted for publication may have a maximum length of about 60,000 characters and should be submitted by 15 February 2020.

The Archiv für Sozialgeschichte is edited by Kirsten Heinsohn, Thomas Kroll, Anja Kruke, Philipp Kufferath (managing editor), Friedrich Lenger, Ute Planert, Dietmar Süß and Meik Woyke.

Programm

Kontakt

Philipp Kufferath
Friedrich-Ebert-Stiftung
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