Fürsorge und Selbstermächtigung

Fürsorge und Selbstermächtigung

Veranstalter
Traverse. Zeitschrift für Geschichte/Revue d'histoire
Veranstaltungsort
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
20.12.2019 -
Website
Von
Sonja Matter, Historisches Institut, Universität Bern

«Hilf dir selbst, sonst hilft Dir ein Sozi». Dieser Spruch war in den 1980er Jahren im Zuge der Jugendbewegung an verschiedenen Hauswänden gesprayt. In wenigen Worten bringt er auf den Punkt, was Fürsorge für Menschen bedeuten konnte: Neben Hilfe und Unterstützung auch Bevormundung und vielfach Kontrolle und Zwang. Denn wie bereits Thomas H. Marshall in citizenship und social class 1949 festhielt, ging eine finanzielle Unterstützung von «bedürftigen» Menschen in der Regel mit der Beschneidung ihrer politischen und bürgerlichen Rechte einher. Die Liste von Grundrechtseingriffen, die fürsorgebedürftige Menschen in der Vergangenheit erlitten, ist tatsächlich lang: Kindswegnahmen, Einsperrungen in Anstalten, Wegweisungen vom Wohnort, Stimmrechtsentzug oder unangemeldete Hausbesuche sind nur einige Beispiele. Gleichzeitig waren diese Zwangsmassnahmen auch Gegenstand von Kritik. Einerseits von Betroffenen selber, die sich gegen die Praxis, als Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse behandelt zu werden, zur Wehr setzten. Andererseits entwickelten auch Professionelle, die etwa im Bereich Fürsorge oder Sonderpädagogik tätig waren, Konzepte, die eine «Autonomie» von «befürsorgten» Personen einforderten.

Während sich in jüngster Zeit zahlreiche historische Arbeiten mit dem Kontroll- und Zwangspotential der Fürsorge auseinandergesetzt haben, widmete sich die Forschung bisher erst punktuell der zeitgenössischen Kritik an diesen Massnahmen und der historischen Formation alternativer Konzepte. So haben zwar Begriffe wie «Autonomie», «Mündigkeit» oder «Empowerment» Eingang in die Professionalisierungsdebatten der Sozialen Arbeit, der Sonder- oder Heilpädagogik gefunden, doch ihre historische Genese ist bisher noch kaum untersucht worden. Ebenso ist unbestritten, dass sich verschiedene soziale Gruppen, die traditionell als Fürsorgeklientel mit nur wenig Mitspracherecht behandelt wurden, emanzipiert und in ihrer Lebensgestaltung Mitspracherechte eingefordert haben: Dies gilt zum Beispiel für Menschen mit einer Behinderung ebenso wie für bestimmte ethnische oder soziale Gruppierungen. Zudem verlangten bestimmte Gruppen – wie beispielsweise ehemalige Heimkinder – eine Anerkennung der ihnen im Rahmen der Fürsorge zugefügten Grundrechtsverletzungen.

Das Heft setzt sich zum Ziel, die Strategien der Selbstermächtigung von Personen zu untersuchen, denen von der Fürsorge oder anderen staatlichen und privaten Institutionen traditionell wenig Handlungsspielraum zugestanden wurde. Was waren die Voraussetzung dafür, dass beispielsweise gehörlose Menschen, uneheliche Mütter oder schlicht armutsbetroffene Menschen Widerstand gegen fürsorgerische (Zwangs-)Massnahmen leisteten, sich gegen Bevormundung und Einschnitte in ihre grundlegenden Rechte zur Wehr setzten und sich teilweise zu organisieren begannen? Welche Rolle spielten transnationale soziale Bewegungen und der zunächst auf der internationalen Ebene vollzogene Ausbau der Menschenrechte? Des Weiteren steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich die Fürsorge in ihrer professionellen und institutionellen Ausrichtung veränderte und auf Kritik an einer zu paternalistischen und kontrollierenden Arbeitsweise reagierte. Mit welchen Zielsetzungen verband sich die Entwicklung von Konzepten wie «Autonomie» und «Mündigkeit» in so unterschiedlichen Bereichen wie der Fürsorge, der Vormundschaft oder der Sonderpädagogik und wie wurden sie in der Praxis umgesetzt? Wie gingen die betroffenen Personen mit den neuen Erwartungen und Imperativen um? Wo stiessen diese Ansätze, beispielsweise bei fürsorgebedürftigen Kindern oder bei Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, an ihre Grenzen und welche Implikationen hatten die Aneignungs- und Ablehnungsstrategien für die Subjektivierung der «befürsorgten» Menschen? Im Fluchtpunkt dieser Forschungsperspektiven steht letztlich die Frage, was eine Demokratisierung der Gesellschaft bedeutete, wenn sie von den «sozialen Rändern» her gedacht und untersucht wird.

Erwünscht sind Beiträge, die sich u. a. mit folgenden Fragen, Themen und Aspekten beschäftigen:
Welche gesellschaftlichen und rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen ermöglichten und förderten Prozesse und Strategien der Selbstermächtigungen? In diesem Zusammenhang interessieren vor allem, aber nicht nur die Veränderungsprozesse ab den 1960er-Jahren, die zu einer Liberalisierung, Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen führten, aber auch neue Anforderungen an eine selbstverantwortliche Lebensgestaltung mit sich brachten.
Welche Rolle spielten dabei transnationale Entwicklungen, Bewegungen und Netzwerke?
Wie nehmen sich Momente der Selbstermächtigung in einer biografischen Perspektive aus? Was führte dazu, dass einzelne Menschen Autonomie und Selbstverantwortung aktiv einforderten und sich für mehr Freiheit und Fairness einsetzten? In diesem Zusammenhang interessieren sowohl gut dokumentierte Fallbeispiele als auch Prozesse der kollektiven Mobilisierung.
Welche Formen des Widerstands und der Kritik gegenüber bevormundenden Praktiken lassen sich feststellen und wie veränderten sich diese im Zeitverlauf? Auch in diesem Zusammenhang interessieren sowohl individuelle wie auch kollektive Handlungs- und Aktionsformen.
Welche Rolle spielten international verhandelte Konzepte der Sozialen Arbeit und der (Sonder-)Pädagogik bezüglich der Selbstermächtigung von Klientinnen? Wie reagierten die betroffenen Professionen auf Kritik an bestehenden Praktiken? Inwiefern entwickelten sich Vorstellungen der Selbstermächtigung und Autonomie aber auch zu Handlungsorientierungen und Erwartungshaltungen im professionellen Kontext, die sich an Klientinnen richteten – und unter Umständen auch als neue Zumutungen wahrgenommen wurden?
Welche Formen der nationalen und transnationalen Mobilisierung ergriffen «befürsorgte» Menschen, um sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren? Wie gelang es ihnen, ihrer Version der Geschichte Akzeptanz zu verleihen?

Bitte senden Sie ein Abstract mit max. 2‘500 Zeichen und einem kurzen CV bis zum 20. Dezember 2019 an eine der folgenden Personen: urs.germann@img.unibe.ch, alix.heiniger.1@unil.ch, mariama.kaba@unil.ch, sonja.matter@revue-traverse.ch; . Die anschliessenden Beiträge haben einen Umfang von ca. 30‘000 Zeichen und sind bis zum 31. August 2020 einzureichen.

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urs.germann@img.unibe.ch alix.heiniger.1@unil.ch mariama.kaba@unil.ch sonja.matter@revue-traverse.ch


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