Die sowjetische Öffentlichkeit zur Zeit der „Perestrojka“ (1985-1991)

Die sowjetische Öffentlichkeit zur Zeit der „Perestrojka“ (1985-1991)

Veranstalter
Deutsches Historisches Institut Moskau
Veranstaltungsort
DHI Moskau, c/o INION, Nachimovskij Pr. 51/21, RF-117418 Moskva, Russ. Föderation
Ort
Moskau
Land
Russian Federation
Vom - Bis
13.11.2008 - 15.11.2008
Deadline
15.03.2008
Von
Lorenz Erren

Die sowjetische Öffentlichkeit zur Zeit der „Perestrojka“ (1985-1991)

Konferenz am DHI Moskau (13.-15. November 2008)

Mitte der 1980er Jahre kam es in der Sowjetunion zu einer raschen Veränderung des sozialen Bewußtseins.
Die Staats- und Parteiführung selbst hatte mit der Losung „Glasnost'“ eine kritische Öffentlichkeit wachgerufen, die sich bald verselbständigte. Mit den Spielregeln der Kommunikation veränderte sich auch die politische Praxis. Einer engagierten Publizistik gelang es, die kommunistische Diktatur innerhalb kurzer Zeit wirksam zu diskreditieren und die Frage nach einer neuen, humaneren und rationaleren Staats- und Gesellschaftsordnung aufzuwerfen.
Die Konferenz will dazu einladen, den Forschungsstand zur Öffentlichkeit im russischen Sprachraum zu resümieren und über die Perspektiven ihrer künftigen Erforschung durch die Zeitgeschichte zu diskutieren.
Daneben soll auch nach den historischen Voraussetzungen des Bewußtseinswandels gefragt werden. Welche Rückschlüsse lassen sich aus dem Verhalten der sowjetischen Bürger in den Jahren 1985-1991 auf die politische Kultur der vorangegangenen Jahrzehnte ziehen?

Dazu bieten sich unter anderem folgende Themenbereiche an:

Theoretische Konzepte
Reformorientierte Regierungspolitiker, etablierte Wissenschaftler, engagierte Journalisten, Intellektuelle und „einfache“ Bürger verbanden die Herstellung einer neuen debattierenden Öffentlichkeit oftmals mit hohen aufklärerischen Erwartungen und Zielen.
Zu untersuchen wäre, wie die genannten Akteure das Phänomen „Öffentlichkeit“ reflektierten, an welchen sowjetischen, russischen oder westlichen Konzepten und Erfahrungen sie sich orientierten und welche Strategien öffentlicher Wirksamkeit sie darüber hinaus selbst entwickelten.

Interesse an politischen Themen
Viele zuvor geleugnete soziale und politische Probleme wurden bald intensiv diskutiert, wie beispielsweise der Alkoholmißbrauch, die Umweltzerstörung, die Wachstumsschwäche sozialistischer Planwirtschaft, die Verfälschung der sowjetischen Geschichte und schließlich die zahlreichen nationalen Konflikte.
Wie fanden diese Themen ihren Weg in die öffentliche Aufmerksamkeit? Handelte es sich um einen spontanen Prozeß? Verlief dieser stets auf die gleiche Weise vor demselben Publikum, oder erzeugten unterschiedliche Themen ihre eigene Öffentlichkeit und hatten ihre eigene „Klientel“?

Medien und Medialität
Die Lockerung der Zensur und die Veränderung in der Berichterstattung führten zu einem Boom fast aller Medienformate.
Wie veränderte sich die Medienlandschaft insgesamt, welche „alternativen“ bzw. privaten Medien und Informationsdienste (Zeitschriften, Nachrichtenagenturen, Auskunftsbüros, demoskopische Institute) konnten sich etablieren? Wie veränderten sich Atmosphäre und Machtverhältnisse in den großen Redaktionen, wie die moralische und praktische Arbeitsauffassung der Journalisten, wie das Verhältnis zu Lesern und Zuschauern? Gab es spezifische Wandlungskarrieren?

Mikroöffentlichkeit und Gesprächskultur
In zahlreichen Städten entstanden „nichtformale Organisationen“ und spezielle Klubs, die jedermann dazu einluden, über die öffentlichen Angelegenheiten zu diskutieren. Aber auch der private und halböffentliche Bereich in Betrieben und Massenorganisationen wurde vielfach zum Ort intensiver Debatten.
Welche Wirkung erzielte diese „informelle“ auf die „große“ massenmediale Öffentlichkeit?
Was erhofften sich die Teilnehmer von ihrem Engagement? Welche Diskussionskultur und welcher rhetorische Stil herrschten vor? Welche Rolle spielten diese Foren für die Herstellung langfristig nützlicher Bekanntschaften und funktionaler Netzwerke?

Politische Willensbildung
Auch politische Konflikte wurden bald wieder in aller Öffentlichkeit ausgetragen. 1988 kam es zu ersten (noch illegalen) Parteigründungen, zu Massendemonstrationen und im Herbst zur ersten „richtigen“ Wahlkampagne nach dem neuen, freieren Wahlgesetz.
Viele Zeitgenossen empfanden sowohl Freude über die Demokratiserung wie Furcht vor einer politischen Destabilisierung.
Welche Meinung hatten sowjetische Stadtbewohner von der demokratischen Reife ihrer Mitbürger?
Vertrauten sie auf deren guten Willen, Konflikte friedlich zu lösen, wie beurteilten sie die Virulenz nationaler Konflikte? Und wie verhielten sich die Sicherheitskräfte in der ungewohnten Situation, wie ist ihr Vorgehen aus heutiger Sicht einzuschätzen?
Inwieweit betrachteten die neuen Parteien und Kandidaten den öffentlichen (Straßen-)Raum als Tribüne der Selbstdarstellung? Welches Bild hatten die Kandidaten von ihren potentiellen Wählern und welche Methoden der Wahlwerbung erwiesen sich als erfolgreich? Gab es einen Stadt-Land Gegensatz?

Kommerzialisierung
Die wirtschaftliche Liberalisierung ermöglichte die Vermarktung von Informationsdefiziten und die Ausnutzung von Aufmerksamkeitsüberschüssen. Der Anzeigenmarkt, die Demoskopie und die Werbewirtschaft erlebten einen raschen Aufschwung.
Gab es Versuche, politisches und gesellschaftliches Insiderwissen kommerziell zu nutzen? Hatte die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes Rückwirkungen auf die Mechanismen der „politischen“ Öffentlichkeit?

Irrationale Stimmungen und Erwartungen
Berichte von UFO-Landungen, Wunderheilungen und übernatürliche Vorfälle wurden Ende der achtziger Jahre über offiziöse Massenmedien als „Nachrichten“ verbreitet und von einem großen Teil des Publikums sehr unkritisch aufgenommen.
Wie wurde der Wunderglaube von gutgläubigen und skeptischen Zeitgenossen jeweils gedeutet?
Kann die Erforschung solcher Massenpsychosen zum Verständnis der politischen Öffentlichkeit in der späten Sowjetunion beitragen?

Interessierte Referentinnen und Referenten bitten wir, bis 15. März 2008 ihren Vortragsvorschlag (max. eine Seite; Beiträge auf der Tagung: 30 Minuten) zusammen mit einem kurzen Lebenslauf an folgende E-Mail-Adresse zu senden:
lorenz.erren@dhi-moskau.org
Der Vortragsvorschlag sollte Name, Position, E-Mail-Adresse, Vortragstitel sowie einen kurzen Überblick über Problemstellung und Argumentationsgang des geplanten Vortrags enthalten. Als Tagungstermin ist 13. bis 15. November 2008 vorgesehen, Tagungsort ist das DHI Moskau. Reisekosten können auf Antrag erstattet werden, wenn die Finanzierung aus anderen Mitteln nicht möglich ist.

Programm

Kontakt

Lorenz Erren

DHI Moskau, c/o APK Worldwide Courier
Desenisstr. 54, D-22083 Hamburg
+7 499 744 4562

lorenz.erren@dhi-moskau.org

www.dhi-moskau.de