Russischer Soldatenalltag in Deutschland

Russischer Soldatenalltag in Deutschland

Veranstalter
Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst <http://www.museum-karlshorst.de> (12386)
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12386
Ort
Berlin-Karlshorst
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.11.2008 - 01.03.2009

Publikation(en)

Cover
Blank, Margot (Hrsg.): Russischer Soldatenalltag in Deutschland 1990-1994. Bilder des Militärfotografen Wladimir Borissow. Bönen 2008 : Kettler, ISBN 978-3-941100-41-1 112 S., 110 Abb. € 28,00 (Museumsausg.), € 12,00 (Buchhandelsausg.)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elena Stepanova, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wie viele Sowjetbürger es waren, die im Laufe von fast 50 Jahren ihren Militärdienst bei der „Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ leisteten, weiß bis heute niemand genau. Der Historiker Jan Foitzik geht von mehr als zehn Millionen Menschen aus, die zwischen 1945 und 1994 jeweils zwei bis drei Jahre in der DDR verbrachten (Ausstellungskatalog, S. 15). Bestätigte Zahlen gibt es erst für das Jahr 1991: Knapp 340.000 Militärangehörige sowie 210.000 Zivilangestellte und Familienangehörige, darunter 90.000 Kinder, verteilten sich damals auf 777 Kasernenanlagen in der gesamten DDR.1 Es war ein gewaltiger Archipel isolierter Sowjet-Inseln, deren Bewohner meist so wenig vom Leben in der DDR wussten, wie der einfache DDR-Bürger Einblick in den Alltag der Kasernen hatte.

Über das Leben der sowjetischen Truppen in ihren Kasernen ist immer noch wenig bekannt. Auch die historische Forschung kann bisher nur zum Teil Auskunft darüber geben.2 Die Fotoausstellung „Russischer Soldatenalltag in Deutschland 1990–1994“ im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst ist insofern ein wichtiger Versuch, sich der russischen Armee auf deutschem Boden zu nähern – und zwar der Endphase dieser Truppenpräsenz. Es handelt sich um eine einzigartige Fotosammlung des Militärfotografen Wladimir Borissow, der 1990 bis 1994 im Auftrag des Oberkommandos der „Westgruppe der Truppen“ (WGT) den Alltag der auf dem Boden der ehemaligen DDR stationierten russischen Truppen dokumentierte. Über die Person des Fotografen ist nichts Näheres bekannt; nichts weiß man auch über die Hintergründe seiner Auftragsarbeit: Zu welchem Zweck fotografierte er in der WGT? Für den internen Gebrauch? Für die sowjetische bzw. russische Presse? Nach Beendigung seiner Arbeit verkaufte Borissow sein Archiv an das Medienpädagogische Zentrum Potsdam. Später überließ das Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg dem Museum in Karlshorst den Gesamtbestand, der über 20.000 Negative umfasst.

Borissow dokumentiert den Soldatenalltag aus der Perspektive eines sowjetischen Militärfotografen. Wer sensationelle Skandalaufnahmen erwartet, wird enttäuscht. Ebenso bedienen die gezeigten Bilder nicht die deutschen Klischeevorstellungen von der Roten Armee. Borissow war weder Historiker noch Dissident. Er war auch kein Kritiker des sowjetischen Systems, im Gegenteil – er war Teil der Armee und fotografierte das, was er sah und fotografieren durfte. Und genau das macht diese Ausstellung so spannend: Zum ersten Mal begegnen die Besucher Aufnahmen, die einen Blick „von innen“ gewähren, von jemandem, der die gleiche kulturelle Prägung und Sozialisation hatte wie die Menschen, die er fotografierte. Dabei zeichnen sich die Bilder durch Glaubwürdigkeit, hohe Qualität und Professionalität des Fotografen aus.

Die Ausstellung ist in thematische Abschnitte gegliedert. Der erste Teil stellt „bekannte Ansichten“ dar: Es sind Motive, die auf den ersten Blick sehr vertraut wirken und offizielle Anlässe dokumentieren – Paraden, Siegesfeiern, Truppenübungen und Exerzierausbildung. Doch geht Borissow über die offizielle Propaganda hinaus. Er hat immer den einzelnen Soldaten im Blick und zeigt, was der Armeedrill für diesen bedeutet. So sieht man neben den exerzierenden Soldaten meistens einen nicht ganz schlanken Vorgesetzten, der äußerst „kritisch“ die Befolgung der Regel durch die Soldaten überprüft. Diese Vorgesetzten werden auf den Bildern nicht ohne Ironie dargestellt. Man begegnet ihnen überall – im Schlafsaal, beim Bügeln, selbst in der Kantine, wo der Oberbefehlshaber Burlakow die Qualität und die Form der Buletten überprüft. Beim genauen Hinschauen stellt sich ein Gefühl für die Enge des Soldatenalltags ein, in dem alles einer strengen Kontrolle und Überwachung untergeordnet war. Borissow zeigt sehr eindringlich die Gesichter der Soldaten bei anstrengenden Sport- oder Stechschrittübungen und erreicht somit eine Ebene jenseits des Klischees. Sein Interesse gilt den Individuen und nicht dem großen Ganzen, das heroisch aussieht. Blickt man den Soldaten ins Gesicht, erkennt man Trauer, Sehnsucht, Anstrengung, die mit dem heldenhaften Bild der russischen Armee nichts zu tun haben.

Der zweite Teil dokumentiert den Alltag des Soldatendaseins. Zum ersten Mal werden Ausschnitte des sowjetischen Kasernenlebens in Deutschland sichtbar: riesige Schlafsäle, in denen bis zu 120 Mann auf schmalen Stahlpritschen untergebracht waren, Essensausgabe in einer Kantine, Pflege der Uniform oder Schneeschaufeln. Der dritte Teil ist dem Kulturleben gewidmet: Ein lockenhaariger Rekrut mit E-Gitarre ist zu sehen – der sowjetische „Elvis“ –, oder auch ein Konzert der populären Rockband „Mirage“. Die Neujahrsfeier in den Redaktionsräumen der Truppenzeitung „Erbe des Sieges“, bei der vorsichtig umschlungen getanzt wird, offenbart die Tristesse und Hoffnungslosigkeit. Die Unsicherheit der 1990er-Jahre kommt auf den Bildern ebenfalls zum Vorschein: Der Einzug des westlichen Konsums in die Lebensmittelgeschäfte steht neben der letzten Parteikonferenz, auf der die Gesichter der hohen Militärs Verwirrung und Orientierungslosigkeit zeigen. Auch private Feiern werden dokumentiert, das Familienleben der Militärs oder der Alltag russischer Kinder in den speziell für sie eingerichteten Schulen. Einen großen Raum nehmen wiederum Porträtaufnahmen ein, die Borissow offensichtlich mit viel Interesse und Leidenschaft anfertigte.

Bilder von unterschiedlichen Einrichtungen der Westgruppe werden dem Motto des „3. Europäischen Monats der Fotografie“ gerecht, in dessen Rahmen die Borissow-Ausstellung gezeigt wird – „noch nie gesehen“ (<http://www.mdf-berlin.de>). Es sind Einblicke in landwirtschaftliche Selbstversorgungsbetriebe, ja sogar in Verhandlungen eines sowjetischen Militärgerichts. Zum Schluss dokumentiert die Ausstellung den Truppenabzug. Dieses Thema nimmt im reichen Negativbestand nur geringen Raum ein. Warum dies so ist, könnte nur der Fotograf selbst beantworten; vermutlich hatten seine Auftraggeber an der Dokumentation des Auflösungsprozesses kein besonderes Interesse mehr.

Sicher fehlt in dieser Fotosammlung einiges, was zum russischen Soldatenleben in der ehemaligen DDR gehörte. Sie dokumentiert auch die Grenzen des Schaffens eines Militärfotografen. Die Fotos sind dennoch eine wertvolle Quelle, gerade wenn man die Rahmenbedingungen ihrer Entstehung bedenkt. Interessant ist sowohl das, was damals gewollt war, als auch die Art und Weise, wie der Fotograf über das Gewollte, das Offizielle hinausging. Denn es ist klar, dass Borissow das Soldatenleben nicht beschönigt. Seine Bilder hinterlassen nicht den Eindruck, dass alle Angehörigen der sowjetischen Armee Helden waren, die mit Eifer und Enthusiasmus ihrem Dienst nachgegangen wären.

Begleitend zur Ausstellung ist ein Katalog mit einem Vorwort der Kuratorin Margot Blank erschienen, die insbesondere auf den Bestand der Borissow-Fotosammlung und die Auswahl der Bilder für die Ausstellung eingeht. Die wissenschaftliche Perspektive ist durch Jan Foitzik vertreten, der allerdings vor allem die ersten Jahrzehnte der sowjetischen Präsenz in der ehemaligen DDR berücksichtigt und weniger den Zeitraum, den Borissow in seinen Fotos festgehalten hat. Diese Fotos zeigen auf unspektakuläre und undogmatische Weise den Alltag der russischen Soldaten in vielen seiner Facetten: den matten Glanz der beinahe lächerlich wirkenden Militärparaden, die Härte des Kasernenalltags und die Freuden in der Freizeit.

Anmerkungen:
1 W.I. Feskow/K.A. Kalaschnikow/W.I. Golikow, Sowetskaja armija w gody cholodnoj vojny (1945–1991), Tomsk 2004, S. 6.
2 Siehe Silke Satjukow, Besatzer. „Die Russen“ in Deutschland 1945–1994, Göttingen 2008.

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