Mecheln ist ein Städtchen in der flämischen Provinz auf halber Strecke zwischen Brüssel und Antwerpen. Die verkehrsgünstige Lage zwischen der belgischen Hauptstadt und der flämischen Metropole machte die einstige Hauptstadt der österreichischen Niederlande zum geeigneten Standort für ein Sammellager, das 1942 in der Dossin-Kaserne eingerichtet wurde. Von hier aus wurden insgesamt 25.250 Juden und 352 Roma nach Auschwitz deportiert. Die meisten von ihnen wurden direkt nach ihrer Ankunft vergast, nur 1.249 überlebten.
Die Deportation und Ermordung der Juden wurde in Belgien erst spät erforscht. Erst in den 1980er Jahren brachte der Historiker Maxime Steinberg die Forschung in Gang.1 Gemeinsam mit Serge Klarsfeld erstellte er anlässlich des Prozesses gegen den ehemaligen Brüsseler SS-“Judenreferenten“ Kurt Asche eine Dokumentensammlung. In der Dossin-Kaserne waren unterdessen Appartements eingerichtet worden. Erst 1995 wurde in einem Teil des Gebäudes auf Betreiben jüdischer Organisationen, unter maßgeblicher Leitung des Auschwitz-Überlebenden Nathan Ramet, das Jüdische Deportations- und Widerstandsmuseum eröffnet. Die damalige Ausstellung erzählte auf engstem Raum die Geschichte der Verfolgung und des Widerstands während der deutschen Besatzung. Unter der engagierten Leitung des Konservators Ward Adriaens wurden die in Belgien fast vollständig erhaltenen Archive der Verfolgung und Ermordung der Juden erschlossen: Die sogenannten Judenregister, die auf deutsche Anweisung von den belgischen Gemeinden erstellt wurden, ebenso wie die Akten der deutschen Sicherheitspolizei und die Transportlisten, auf denen Name, Geburtsdatum und -ort sowie der Beruf der Opfer festgehalten wurden und auf denen sie eine laufende Nummer für jeden der insgesamt 28 Transporte bekamen. Für viele Angehörige war der Name auf der Transportliste die letzte Spur eines Familienmitgliedes und das Museum eine Anlaufstelle auf der Suche nach Informationen.
Die steigenden Besucherzahlen führten 2001 zu Überlegungen, die Räumlichkeiten des kleinen Jüdischen Museums zu erweitern. Die flämische Regierung signalisierte ihre Bereitschaft, das Projekt zu finanzieren, und der damalige flämische Ministerpräsident Patrick Dewael regte an, das bisherige Konzept um andere Genozide und Menschenrechtsverletzungen zu erweitern. Seit dem 1. Dezember 2012 ist die neue Ausstellung für die Öffentlichkeit zugänglich. Die neue konzeptionelle Schwerpunktsetzung und der Bruch mit dem vorherigen Museum kommen im Namen und in der Formgebung deutlich zum Ausdruck. An die Stelle des kleinen, von Überlebenden initiierten Museums ist eine „professionelle“ staatliche Bildungseinrichtung getreten, die sich auch in der internationalen Museumslandschaft verorten will. Bemerkenswert ist, dass es sich um ein dezidiert flämisches Museum handelt. Im gemeinnützigen Verein, der das Museum verwaltet, sitzen neben Vertretern des ehemaligen Jüdischen Museums Vertreter der flämischen Gemeinschaft, der Provinz Antwerpen und der Stadt Mecheln, aber kein Vertreter Walloniens, Brüssels oder des belgischen Bundesstaates. Mit dem Neubau in Form eines weißen Quaders, welcher das ehemalige Sammellager deutlich überragt, ist auch ein architektonischer Bruch vorgenommen worden. Der vom flämischen Architekten Bob Van Reeth entworfene Bau ist nüchtern und zweckmäßig in der Gestaltung der Räume und bietet auf vier Etagen viel Platz für Ausstellungen und pädagogische Arbeit. Im Neubau befindet sich die Dauerausstellung, während im historischen Gebäude ein Gedenkort eingerichtet wurde, der sich vor allem an die Überlebenden und deren Familien richtet.
Die Ausstellung will nicht den europäischen Judenmord in seiner Gesamtheit darstellen, sondern beschränkt sich auf den belgischen Fall. Als Vorbild nennt Kurator Herman Van Goethem das Budapester „Holocaust Memorial Center“. Als zentrale Themen benennt er im Ausstellungskatalog vier Punkte: den belgischen Blickwinkel, eine Analyse von Tätern, Opfern und Zuschauern, die Frage nach Wiedergutmachung und Traumaverarbeitung sowie die Menschenrechtsfrage (S. 9).
Wer den Museumsneubau betritt, kann auf der dem ehemaligen Lager zugewandten Mauer die beeindruckende Installation „Geef ze een gezicht“ (Gib ihnen ein Gesicht) sehen. Sie zeigt die Fotos von etwa 19.000 aus Mecheln Deportierten. Biographische Daten können mit Hilfe eines Touchscreens recherchiert werden. Zu Beginn des Besuches ist ein etwa 15-minütiger Einführungsfilm vorgesehen. Hierin werden Bilder von Einsatzgruppenmorden in problematischer Weise mit gestellten Szenen aktueller Alltagsdiskriminierung und Mobbing vermischt. Die verwendeten Schockeffekte sind ungeeignet, einen Besuch in der Ausstellung einzuleiten und wirken wenig seriös.
Die eigentliche Dauerausstellung belegt die Stockwerke eins bis drei des Neubaus, denen aufsteigend die Themen „Masse“, „Angst“ und „Tod“ zugeordnet sind. Sie zeigt in beeindruckender Weise die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der belgischen Juden sowie des Widerstandes dagegen. Fünf Zeitzeugen begleiten virtuell durch die Ausstellung, indem ihre Erinnerungen auf Touchscreens präsentiert werden. Nach einem Einblick in die Entwicklung in Deutschland bis 1940 wird auf die jüdische Gemeinschaft im Vorkriegsbelgien eingegangen. Diese bestand zu 90 Prozent aus osteuropäischen Flüchtlingen, die aus Russland und Polen, in den 1930er Jahren auch aus Deutschland eingewandert waren. Neben Alltagsszenen werden auch Aufnahmen politischer Demonstrationen und aus Flüchtlingslagern gezeigt sowie Dokumente, die den zunehmenden Antisemitismus in Teilen der belgischen Bevölkerung belegen. Am 10. Mai 1940 wurde das neutrale Belgien zum zweiten Mal innerhalb von nicht einmal 30 Jahren von deutschen Truppen überfallen und besetzt. Die deutschen Besatzer stützten sich für ihre antisemitische Politik auf den belgischen Verwaltungsapparat, der auch nach der Flucht der Regierung weitestgehend intakt geblieben war. Wie reibungslos die Zusammenarbeit gerade im ersten Kriegsjahr war, dokumentiert die Ausstellung schonungslos. Daneben wird auch die Verfolgung der in Belgien lebenden Roma thematisiert.
Der folgende Ausstellungsteil „Angst“ beschäftigt sich mit den Spielräumen unter deutscher Besatzung. Die Einrichtung jüdischer Schulen wird beispielhaft für die ambivalente Rolle der zwangseingerichteten „Judenvereinigung“ gezeigt. Ausführlich wird auch auf verschiedene Formen der belgischen Kollaboration eingegangen. Dabei wird auch die Rolle der belgischen Behörden dargestellt. Während die Bürgermeister der Brüsseler Gemeinden gegen die Einführung des Judensterns protestierten und ihre Mitarbeit verweigerten, nutzte die Antwerpener Verwaltung die Gelegenheit, um ihr „Judenregister“ auf den neuesten Stand zu bringen. Dies illustriert beispielhaft wie entscheidend Einzelne Einfluss auf den Verfolgungsprozess ausüben konnten.
In der dritten Etage wird unter der Überschrift „Tod“ die Vernichtung der Juden thematisiert. Diese lässt sich für Belgien anhand der fast vollständig überlieferten Akten so gut rekonstruieren wie für kaum ein anderes Land. Andererseits gibt es kaum Fotografien und Exponate zur Geschichte des Lagers Mecheln, da sich die meisten Opfer nur kurz hier aufhielten. Beinahe drei Viertel der Deportierten wurden von August bis Oktober 1942 verschleppt. Ein letztes Kapitel thematisiert die Situation der Überlebenden, die als Ausländer oft keinen Anspruch auf Kriegsrenten hatten und teilweise an der Rückkehr gehindert wurden. Viele kehrten Belgien den Rücken.
Die Ausstellung zeigt die belgische Seite der Judenvernichtung und verweist zudem auf die komplexe Situation auf der Täter- und Zuschauerseite. Zudem wird die Nachgeschichte thematisiert. Wünschenswert wären noch Informationen zur Historiographie und Geschichte des Ortes. Irritierend ist die Art der Einbettung in das Thema „Menschenrechte“. So wird etwa die zweite Etage mit einem Großfoto vom chinesischen Tiananmenplatz eingeleitet, auf dem sich ein Demonstrant einem Panzer der „Volksbefreiungsarmee“ entgegenstellt. Selbst vor dem Hintergrund, dass hier museumspädagogisch die Möglichkeit des Einzelnen, sich der Gewalt der Masse entgegenzustellen, thematisiert werden soll, wirkt das Foto doch deplatziert. Ähnliches gilt für die Fotos von Flüchtlingen im heutigen Belgien, aus dem Südafrika der Apartheid, aus dem belgischen Kongo, von den Genoziden in Armenien, Deutsch-Südwestafrika und Ruanda, die an die jeweiligen Ausstellungsteile angehängt sind. Die Zusammenstellung wirkt beliebig und die Befürchtung einer Relativierung scheint nicht ganz unbegründet. Dennoch ist die Ausstellung insgesamt gelungen. Wer sich mit der deutschen Besatzungszeit des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzt, wird an der „Kazerne Dossin“ kaum vorbeikommen. Der Katalog zur Ausstellung zeigt zudem die wichtigsten Dokumente und Fotos der Ausstellung; bisher ist er auf Englisch, Französisch und Niederländisch verfügbar.
Anmerkung:
1 Maxime Steinberg / Serge Klarsfeld, Die Endlösung der Judenfrage in Belgien. Dokumente, New York 1980; Maxime Steinberg, Le dossier Buxelles-Auschwitz. La police et l'extermination des Juifs en Belgique, Bruxelles 1981; Ders., L'étoile et le fusil. 3 Bd, Bruxelles 1983–1986.